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Wer sich auf die Lektüre von Marcel Prousts monumentalem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit einlässt, läuft Gefahr, der Wirklichkeit abhanden zu kommen. Das Hauptthema des Romanzyklus ist die Zeit, die nicht nur vergeht, sondern die vor allem auch zerstört, während die Erinnerung das Erlebte bewahrt.

Dieser Gegensatz von Vergehen und Bewahren wird durch das oft zitierte Erlebnis illustriert, das der Erzähler mit dem Duft eines Gebäckstücks, einer Madeleine, verbindet, das ihm die versunkene Welt seiner Jugend wieder ins Gedächtnis ruft. In dieser Erinnerung findet der Erzähler nicht nur die ferne Kindheit wieder, sondern er vermag diesen Verlust auch dadurch zu überwinden, dass ihm ein Ausschnitt der Vergangenheit zu einem Teil seiner Gegenwart wird.

Das erhellt, warum sich Eine Liebe Swanns ebenso wenig wie die anderen Romane, die zu diesem Mammutwerk aufgeschichtet sind, auf ein Handlungsgerüst reduzieren lässt. Dies zu versuchen wäre, wie André Maurois einmal bemerkte, ebenso absurd, als wollte man das uvre Renoirs damit erklären, dass er vorzugsweise Frauen, Kinder und Blumen gemalt habe. Die Protagonisten Prousts, heißen sie nun Swann oder Odette, Gilberte oder Bloch, Charlus oder Rachel, sind lediglich Schemen, die von der Erinnerung in ein unterschiedlich eingefärbtes Licht getaucht werden.

Dahinter verbirgt sich die Einsicht des Erzählers, dass das eigene Ich nicht einer Persönlichkeit eingeschrieben ist, die unverändert den Erfahrungen in der Wirklichkeit standzuhalten vermag, sondern dass dieses Ich vom Fluss der Zeit unaufhaltsam aufgelöst wird. Die Erinnerung ist deshalb der Königsweg, Verluste zu verwinden.

Der irrt jedoch, der sich auf der Suche nach dem in der Zeit verlorenen Ich an jene Orte begibt, die er einmal geliebt hat. Diese Orte existieren nämlich nicht in der wirklichen Welt, sondern lediglich in der Zeit und der Erinnerung: Der Mann wird nicht mehr zum Kind oder zum Liebenden, wenn er an einem Ort steht, mit dem für ihn ein bestimmtes Glücksempfinden verknüpft ist.

In Unterwegs zu Swann hat Proust diese Erfahrung in den letzten Sätzen festgehalten: "Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre!"

Die früheren Ichs jedoch gehen nicht völlig verloren, sondern werden in unseren Träumen wieder lebendig. Deshalb auch schwindet die Zeit nicht spurlos dahin, sondern sie lässt sich wieder finden, weil sie in der Erinnerung gegenwärtig ist. (DER STANDARD, Printausgabe vom 11./12.12.2004)