Maria E. Brunner
Berge Meere Menschen.
€ 19,50/168 Seiten.
Folio,
Wien, Bozen 2004

Foto: Buchcover
Manchmal gerät ein Buch bemerkenswert, nicht wegen, sondern trotz der darin erzählten Geschichte. Maria E. Brunners Debüt wiederholt eine Konstellation, die Franz Innerhofer vor genau dreißig Jahren mit seinem Roman Schöne Tage geprägt hat: das arme Kind, das auf dem Bauernhof wie leibeigen gehalten wird, statt Liebe Verachtung erfährt und nur den Wunsch hat, das Gefängnis des Hofes, des Tales zu verlassen. Seither haben wir viele Geschichten gelesen, die die Enge des Gebirges, die Dumpfheit des Landlebens, die Gemeinheit der Dörfler in immer neuen, düsteren Farben schildern. Was literarhistorisch zum Stereotyp verkommen ist, kann nichtsdestoweniger im Einzelfall wahrhaftig sein. Maria E. Brunner erzählt die Geschichte eines "Kostkindes", das auf einem Südtiroler Bergbauernhof nahe der österreichischen Grenze aufwächst, in den Sechzigerjahren, als sich nach und nach "das Gesindel" im Gebirge einnistet, die Sommerfrischler, die Winterurlauber aus der Stadt. Das Kostkind, das keinen Namen hat, ist ein Mädchen: "Sie" will weg aus der Einzelhaft auf dem Berg, unternimmt einen Ausreißversuch nach dem anderen, kommt nicht los und sucht schließlich - das wiederum ist ein Topos speziell der Südtiroler Literatur - ihr Heil im Süden, in der vertrauten italienischen Fremde, am Meer als dem ganz anderen.

In der "Kost" hat das Erzählte seinen Fokus: Der Bauer, der das Kostkind in Kost nimmt, figuriert nur als "der Kostherr", niemals als Vater oder Ziehvater, obwohl er sich entsprechende Rechte noch bei der erwachsenen jungen Frau herausnimmt und Hilfe einmahnt, nicht ganz erfolglos, die Bindung an die Zieheltern ist stärker, als die Protagonistin wahrhaben will. Später, nach der klassischen Emanzipation durch die Bücher, lebt sie am "Kostplatz" des Ministeriums. Wie viel sie kostet und dass sie sich ihre Kost erst verdienen muss, hat man der Kleinen früh eingetrichtert. Und die Frau des Kostherrn nimmt gar keine Kost mehr in Anspruch, als sie aus dem Krebszimmer des Spitals nach Hause entlassen wird. Auch um sie geht es in Berge Meere Menschen, um ihre hilflose und sprachlose Liebe zum Findelkind, um die Zerstörung der als hoffnungsvolle Braut aus reicher Familie auf den Berg Gekommenen durch den Ehemann und die Schwiegermutter, die sie nach archaischem Muster kleinkriegt, die die Herrschaft im Haus und am Herd eisern behauptet: Das erste Mal darf die Frau an die Kochtöpfe, als es das Totenmahl der Altbäuerin zu bereiten gilt. Aufbegehren oder Weggehen liegt außerhalb des ihr Möglichen: "Sie musste damit rechnen so zu enden wie sie dann auch endete."

Maria E. Brunner, von der bisher einige Übersetzungen aus dem Italienischen vorliegen, hat für die älplerische Abwandlung des Oliver Twist-Themas eine starke Sprache gefunden. Nicht der Verzicht auf Beistriche (sie finden sich nur in der direkten Rede) macht sie aus, wenngleich er zu genauerem Lesen zwingt. Es ist die hintergründig präzise Beobachtung und der Gebrauch von autochthonen Wörtern, die der Misere passen wie angegossen: das "Widum", die "Baraber", die "Krautwalschen" und die "Neujahrabgewinner", wer immer die sein mögen, nur hie und da rutscht ein lexikalisches Kuckucksei wie "Plastiktüten" darunter. Vor allem aber finden sich da Sätze wie: "Der Bürgermeister hat attraktiv geredet damit nicht alle auf der neuen Autobahn vorbeifahren. Schöne Blumenanlagen fangen den Durchzugsverkehr auf." Oder, über das "Aufdringliche" der Berge und der Natur: "Nirgends hatte man Ruhe vor diesem unsachlichen Anblick." Oder handfest-lakonisch: "Nur die Finger machen die Liebe manchmal schön. Zwei Namen glühen auf im Dunkeln. Aber: Was wäre gewesen?"

Brunners Erstling hat freilich auch Schönheitsfehler. Nicht immer umschifft die Autorin die Untiefen des Sprachklischees ("Erst wenn sie alles hinter sich werfen und alles verbrennen würde dann konnte sie eintreten bei sich selber"). Das Stilmittel der Wiederholung scheint mitunter zu wenig strukturiert, um den bewussten Gebrauch glaubhaft zu machen. Auch die Vermengung von Poetischem und eher Essayistischem wirkt nicht immer gewollt heterogen. Bis zum Schluss sind die Szenen auf heimatlichem Boden überzeugender als die Männergeschichten on the road.

Unter dem Strich bleibt aber die einprägsame sprachliche Gestalt weiblicher Verdingung und Verdinglichung, die nirgends spekulativ wird - einmal gibt es eine Andeutung, der Kostherr habe sich an dem Mündel auch sexuell vergangen, aber eben: nur eine Andeutung. Im Gedächtnis haftet das Bild eines heruntergekommenen Standes, der seinen Stolz und seinen Glauben an den Tourismus verrät und "die Tradition die verhurte im Künstlerstübele" bewahrt.

Über den jungen Heiner Müller meinte ein Kritiker: "Müller - den Namen wird man sich merken müssen." In diesem Sinne. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 11./12.12.2003)