Zwischen bürgerlicher Revolution 1848 und Staatsvertrag 1955 hat Österreich so ziemlich alle denkbaren Staatsformen durchprobiert - und auch so ziemlich alle Ideen der Wirtschaftspolitik. Mal liberal, mal planwirtschaftlich, mal protektionistisch und beinahe immer defensiv. Der zweite Band der österreichischen Industriegeschichte steht unter dem Generalthema der "verpassten Chance" und zeichnet nach, dass es eben nicht nur die weltpolitischen Entwicklungen waren, die Österreichs Industrie gehemmt haben, sondern hausgemachte Faktoren.

Zum Beispiel das Selbstverständnis, mit dem sich Österreich auch international darstellte: "Auf der Pariser Weltausstellung 1867 präsentierte sich die Monarchie als riesiges Dorf: Im Zentrum eine große Bierhalle, dahinter eine ungarische Csarda zum Ausschank ungarischer Weine, ein Oberösterreicherhaus (!) als Niederlage österreichischer Weine, eine Wiener Bäckerei, ein von in Leder- und Holzarbeit geübten Landsleuten bewohntes Tirolerhaus" und dann wieder ein Ausschank "geistiger, in Gallizien erzeugter Getränke". Schöne Idylle - aber wenig Bezug zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft.

Andererseits zeigt die Statistik: Zwischen 1820 und 1870 ist Österreich-Ungarn in seiner Wirtschaftsleistung hinter die westeuropäischen Mächte zurückgefallen, konnte in der Zeit bis 1910 durch vergleichsweise hohe Wachstumsraten etwas aufholen - die Republik Deutschösterreich war aber dann der große Verlierer des Ersten Weltkriegs: "Österreichs Volkswirtschaft verzeichnete zwischen 1913 und 1938 eine der schlechtesten Vorstellungen Europas, nur Spanien lag noch schlechter. . . Die Situation war insofern merkwürdig, als es bis zum Zweiten Weltkrieg das Image eines Agrarstaates hatte, sehr früh aber eigentlich ein Industriestaat war", heißt es im Kapitel "Früher Starter - später Sieger".

Zwischen Unterspielen der eigenen Stärken und einem immer etwas aufgesetzt wirkenden Patriotismus schwankte auch die Darstellung der Wirtschaft im eigenen Land: Immer wieder Appelle österreichisch zu kaufen - speziell in der schwierigen Zeit nach den Weltkriegen, die beide eine radikale Umstellung der Wirtschaftsverhältnisse bedeuteten. Zum Beispiel in der Zuckerproduktion: Als die Habsburgermonarchie zerfiel, stand Österreich ohne Zucker da, weil auf das Staatsgebiet der Republik nur weniger als fünf Prozent der Zuckerproduktion entfielen. Es dokumentiert die Leistungsfähigkeit der heimischen Industrie, dass sie dennoch nicht nur bei Zucker, sondern auch bei Tabak (wo die Produktionsverhältnisse ähnlich waren) rasch wieder "Vorkriegsniveau" erreichte, auch wenn diese Erfolge im allgemeinen Bewusstsein wenig verankert waren. Dieses Bewusstsein schärfte sich erst nach dem Abzug der Besatzungstruppen, es wird Thema des dritten Bandes sein, der 2005 erscheint. (cs/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12. 12. 2004)