Valéry Giscard d'Estaing hat unlängst an dieser Stelle für eine "Rückkehr zur Vernunft" plädiert und damit die Beschränkung der türkischen EU-Perspektiven auf eine "privilegierte Partnerschaft" gemeint. Ein trinationaler "Weisenrat" widerspricht heftig.


Als die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 1999 zu dem Schluss kamen, dass "die Türkei ein Beitrittskandidat ist, der auf Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen Kandidatenländer gelten, Mitglied der Union werden soll", taten sie dies in voller Kenntnis aller Argumente, die für und gegen einen EU-Beitritt der Türkei sprechen. Gleiches gilt auch für ihre drei Jahre später getroffene Entscheidung, den unverzüglichen Beitrittsverhandlungsbeginn in Aussicht zu stellen, falls sie im Dezember 2004 befinden, dass die Türkei die politischen Beitrittskriterien erfüllt und die EU-Kommission hiefür eine Empfehlung abgibt. Letzteres ist im Oktober geschehen.

In ihrem Bericht hob die Kommission die von der Türkei gemachten Fortschritte hervor, verwies aber auch auf jene Bereiche, in denen noch größere Anstrengungen nötig sind. Die Empfehlung der Kommission war allerdings deutlich: Sie ist "der Ansicht, dass die Türkei die politischen Kriterien in ausreichendem Maße erfüllt, und empfiehlt daher die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen". Würden die europäischen Staats-und Regierungschefs nun der Türkei Beitrittsgespräche verwehren, stünde das nicht nur im Widerspruch zu ihren eigenen Entscheidungen, sondern wäre auch eine klare Verletzung ihrer gegenüber der Türkei wiederholt eingegangenen politischen Verpflichtungen.

Von ihrem Wesen und ihrer Ausrichtung her müssen diese Verhandlungen auf einen Beitritt abzielen. Man rechnet mit langen und schwierigen Gesprächen. Daraus ergibt sich aber für die Türkei durchaus ein Vorteil, da sie Zeit haben wird, den bereits in die Wege geleiteten Transformationsprozess fortzusetzen und zu vertiefen. Die EU sollte diese Zeit ihrerseits nutzen, um das eigene Haus in Ordnung zu bringen: den Verfassungsvertrag ratifizieren und die Integration der in diesem Jahr aufgenommenen neuen Mitglieder ebenso abschließen wie die jener Länder, die während der Verhandlungen mit der Türkei EU-Mitglieder werden könnten - nämlich Bulgarien, Rumänien und Kroatien.

Unredliche Kritik

Für die Union sollte diese Aufgabe durchaus bewältigbar sein. Ist man bereit, sich ihr zu stellen, werden zum Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung sowohl die Türkei als auch die Union sich bereits tief greifend verändert haben. Aufgrund der spezifischen Charakteristika der Türkei - ihrer Größe, der geopolitischen Lage und religiösen Traditionen - stellt ihr Beitritt zur EU zwar beide Seiten vor große Herausforderungen, bietet aber auch enorme Chancen. Keines der damit verbundenen Probleme sollte allerdings als unüberwindliches Hindernis für eine türkische Mitgliedschaft betrachtet werden. Tatsächlich hat die Kommission in ihrem Bericht auch aufgezeigt, wie diese Hindernisse überwunden werden können.

Die meisten von den Skeptikern vorgebrachten Argumente gegen eine türkische EU-Mitgliedschaft sind in Wirklichkeit unredlich und irreführend. So sollte es doch allseits bekannt sein, dass sich die Türkei selbst immer als europäischer Staat definiert hat und als solcher schon vor Jahrzehnten von Europa anerkannt wurde. Wie hätte sie auch sonst Vollmitglied in allen europäischen Organisationen und Institutionen mit Ausnahme der EU werden können?

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Türkei grundlegend von Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten. Es stimmt einfach nicht, dass der türkische Beitritt die Schleusentore für nicht europäische Länder öffnen würde. Ebenso unzutreffend ist die Ansicht, das Assoziierungsabkommen mit der Türkei aus dem Jahr 1963 wäre nur von untergeordneter Bedeutung für ihre EU-Mitgliedschaft, weil die Gemeinschaft damals ausschließlich ökonomischen Charakter hatte. Seit Beginn des Integrationsprozesses haben die Gründungsväter Europas mehr als deutlich gemacht, dass eine politische Union das Endziel ist und die wirtschaftliche Integration nur der erste Schritt in diese Richtung.

Es ist absurd zu unterstellen, dass europäische Visionäre wie Adenauer und de Gaulle die Konsequenzen ihrer Entscheidung, die Türkei als assoziiertes Mitglied der EWG zuzulassen, nicht erkannt hätten. Tatsächlich bekräftigte der damalige Kommissionspräsident Walter Hallstein aus diesem Anlass dreimal, dass "die Türkei zu Europa gehört".

Als der Europäische Rat im Jahr 1999 den Weg für die türkische Mitgliedschaft ebnete, tat man dies in vollem Bewusstsein der Tatsache, dass mit dem Vertrag von Maastricht einige Jahre vorher eine Europäische (politische) Union geschaffen worden war. Ebenso konnten die Mitglieder des EU-Konvents gegenüber der Möglichkeit baldiger Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht die Augen verschlossen haben. Schließlich gibt es auch keinen Grund zur Annahme, dass die türkische Mitgliedschaft mit der neuen Verfassung nicht in Einklang zu bringen wäre.

Stunde der Wahrheit

Am 17. Dezember müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs eine unmissverständliche Entscheidung zugunsten der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fällen. Damit lösen sie ihre langjährigen Versprechen ein und dienen Europas grundlegenden Interessen. Das Datum ist historisch: Die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union steht auf dem Spiel. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.12.2004)