Wien - Jeden, wirklich jeden einzelnen Ton singt sie, als ob er der kostbarste, wichtigste, letzte wäre, den es auf dieser Welt zu singen gäbe. Ihre Koloraturen gleichen in ihrer Makellosigkeit, ihrem Glanz und ihrer Perfektion kunstvoll funkelnden Tonkolliers und gehörten eigentlich in die Auslage eines Juweliers - und sind doch auch gleichzeitig die wildesten, gefährlichsten, schmutzigsten Schlachtfelder des Gefühls. Wie sie leidet, wenn sie leidet, wie sie sich freut, wenn sie sich freut: Es ist Emotion, so frisch, so intensiv, so kindlich spontan und unberechenbar, dass sie einen förmlich anspringt.

Oft sorgt man sich um sie, weil sie selbst so gepackt, durchgeschüttelt, zerrissen wird von dem, was da in ihr tobt. Singt sie eine kämpferische Arie, so verwandelt sie sich in einen jungen Mann, nein, in ein Dutzend wilder, wütender junger Männer, die in diesem Moment nur eines wollen: kämpfen und es gegen hundert, gegen tausend, gegen alle aufnehmen. Singt sie eine traurige Arie, so zerfällt sie schon in der Orchestereinleitung zu einem Häufchen Elend, dass es einem die Kehle zuschnürt, was aber egal ist, weil man zu atmen aufhört wenn man die folgenden Melodien hört, so zart, verzweifelt und innig. Man ist, was man fast nie mehr ist: erschüttert, zerstört, zerbrochen. Und man spürt wieder, was man nur noch wusste: dass Gefühl das Wichtigste ist.

Cecilia Bartoli war im Wiener Konzerthaus zu erleben, mit Georg Friedrich Händel, begleitet von Marc Minkowski und den Musiciens du Louvre. Es war wundervoll. (end/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 12. 2004)