Die "Tageszeitung" sieht die CDU/CSU in der Beitrittsfrage auf Isolationskurs: Die Union drängt darauf, dass diese Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden und am Ende auch eine "privilegierte Partnerschaft" stehen könnte. Was sie darunter versteht, bleibt allerdings nebulös: Die Türkei ist bereits Mitglied in der Nato, im Europarat und der OECD und mit der EU wirtschaftlich eng durch eine Zollunion verbunden. Was mehr könnte eine "privilegierte Partnerschaft" bieten?

Abgesehen von solchen Worthülsen steht die Union mit ihrem Türkei-Kurs aber auch ziemlich allein da. In der EU ist sie mit ihrer Position eine Minderheit - und das wird wohl so bleiben. Die Wirtschaft distanziert sich von ihrem Kurs, und selbst die Bild-Zeitung mag nicht so recht mitziehen. Sollte die EU am Freitag die Aufnahme von Beitrittsgesprächen beschließen, dann wird die Union sich ihre privilegierte Feindseligkeit gegen die Türkei nicht mehr leisten können. * Der Berliner "Tagesspiegel" schlägt in die gleiche Kerbe:

Wer die Beitrittsfrage mit den Reizthemen Kriminalität und Islamismus koppelt, wie die Union das nun in ihrem Bundestagsantrag zum Türkeibeitritt tut, der appelliert nur noch an die Urteilskraft des Stammtisches. Das Spielen mit Ressentiments könnte die Union aber bald in eine Zwickmühle bringen: Nur wer Opposition bleiben will, kann 2006 in der Türkei-Frage ohne Rücksicht auf diplomatische Schäden weiterkeilen. Eine Union, die an ihren Wahlsieg glaubt, wird gegenüber Ankara staatsmännischer auftreten müssen. Der Brüssler Korrespondent der "Welt" sieht das völlig anders:

Die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union wird die Integrationsfähigkeit der jetzt existierenden EU überfordern. Die Idee der Vertiefung der Union wird der Euphorie der Fläche geopfert. Von der immer enger zusammenwachsenden EU, wie sie in der Gründungsakte beschworen wird, spricht im Zusammenhang mit der Türkei ohnehin kein Europäer mehr. Stattdessen werden Schreckensvisionen entworfen: Die Türkei drifte ab in den Islamismus, wenn die EU sie ablehnt, und nur wenn Verhandlungen beginnen, gehe auch der Reformprozess weiter. Dies unterstellt der jetzigen und den späteren türkischen Regierungen größtmögliche politische Unmündigkeit. Es wäre dann die EU, die den ständigen Zucht- und Lehrmeister des Landes zu spielen hätte. Brüssel säße in Ankara praktisch mit auf der Regierungsbank, um die Türkei auf Reformkurs zu halten. Die EU als politische Erziehungsanstalt wäre eine wahrhafte Anmaßung und einer selbstbewussten, souveränitätsstolzen Nation wie der Türkei unangemessen.

In der innenpolitischen Debatte wird argumentiert, dass ein Beitritt der Türkei die Integration der in Deutschland lebenden Türken erleichtere. Wenn die Eingliederung der hier Lebenden heute nicht gelingt, dann soll die Aufnahme von 80 Millionen Türken in die EU in zehn oder 15 Jahren dieses leisten? Ein abwegiges Argument angesichts der Vorbehalte in vielen Ländern der EU gegenüber einem Beitritt der Türkei.

Diese Bedenken in der Bevölkerung spiegeln das Empfinden wider, dass die EU an die Grenzen ihrer Ausdehnung gestoßen ist. Die Meinung des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing, die Türkei gehöre nicht zu Europa, dürfte in der Öffentlichkeit von vielen geteilt werden. * Galliges Finale eines in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichten Gastkommentar der in Paris und Brügge lehrenden Politikwissenschafterin Sylvie Goulard zur Schröder/Fischer-Position: Die Deutschen spielen jetzt den Musterknaben gegenüber Ankara und überlassen den Franzosen die Drecksarbeit: Sollen die doch den Marsch der Türken nach Brüssel stoppen, damit Berlin seine Hände in Unschuld waschen und mit dem Finger auf Paris zeigen kann. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2004)