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Cem Özdemir, EU-Abgeordneter

Foto: APA/dpa/Lenz
Der EU-Abgeordnete Cem Özdemir hält Beitrittsverhandlungen für die Chance, Reformen in der Türkei zu festigen. Die Ängste vor Migranten seien unlogisch, sagt er im Gespräch mit Eva Linsinger.

STANDARD: Was sagt ein anatolischer Schwabe zur Türkei?

Özdemir: Ich bin für den Beitritt - und einer der größten Kritiker der Menschenrechtspolitik. Das ist kein Widerspruch, im Gegenteil. Alle türkischen Kurden- oder Kirchenvertreter sagen: Um Gottes willen, schlagt die Tür nicht zu. Die Türkei hat sich atemberaubend geändert. Wenn sie den Weg weitergehen soll, müssen wir Beitrittsverhandlungen beginnen.

STANDARD: Die Konservativen kritisieren Folter.

Özdemir: Mich wundert, dass Konservative ihr Interesse für Menschenrechte sehr selektiv und spät entdecken. Bei Rumänien kritisieren Christdemokraten nicht, dass Journalisten krankenhausreif geprügelt werden und Korruption der Normalfall ist. Bei Rumänien, das 2007 beitritt, drückt man alle Hühneraugen zu. Es geht nicht um Menschenrechte, sondern darum, dass ein muslimisches Land nicht beitritt.

STANDARD: Ihr Parteifreund Voggenhuber argumentiert mit der EU-Integrationsfähigkeit.

Özdemir: Das ist das ernsthafteste Argument. Allein die schiere Größe der Türkei bedeutet unglaubliche Belastung. Natürlich müssen wir den Agrarhaushalt reformieren, die Verfassung durchsetzen und die Finanzierung der EU verändern. Und wir müssen der Türkei zwei Dinge sagen: Ihr werdet nicht mehr die Gelder bekommen, die Spanien bekam. Zweitens: Wer in die EU will, muss verstehen, dass die EU mehr ist als eine Freihandelszone.

STANDARD: Eine Angst ist Arbeitsmigration. Sind Sie für dauerhafte Ausnahmen?

Özdemir: Bei der Osterweiterung gibt es Fristen für sieben Jahre, solche oder längere Ausnahmen kann man für die Türkei überlegen. Dauerhafte Ausnahmen sind nicht angemessen. Alle denken bei Migration in Vierjahreszyklen. Das sind Politiker gewohnt. Dabei erklären Wissenschafter, dass wir in 15 Jahren Mangel an Jungen haben werden. Daher bin ich gespannt, ob in zehn Jahren wir Deutschen und Österreicher die Türkei nicht händeringend bitten, dass sie gut ausgebildete Arbeitskräfte schickt.

STANDARD: Helfen die harten Worte türkischer Politiker?

Özdemir: Es gibt eine Öffentlichkeit bei uns, aber auch in der Türkei. Dort entsteht der Eindruck, sie werden nicht genommen, weil sei die falsche Religion haben. Wenn wir eines der wenigen Länder, das Islam und Staat trennt, vor den Kopf stoßen, stärken wir nur muslimische Despoten. Wir würden uns ins Knie schießen wenn wir das Signal setzen, Islam und Demokratie passen nicht zusammen.

STANDARD: Warum sind in Staaten mit großer türkischer Bevölkerung die Ängste groß?

Özdemir: Das liegt auch am Türkei-Bild, das Migranten vermitteln. Es gibt ein Diasporaphänomen, bei Deutschen in Chicago, bei Türken in Wien. Man muss Migranten sagen: Lernt die Sprache des Landes, in dem ihr lebt. Investiert Geld in die Zukunft eurer Kinder, anstatt es in die Türkei zu schicken. So tragt ihr zu einem anderen Türkei-Bild bei. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2004)