Wien - Für den geschäftsführenden Klubobmann der SPÖ, Josef Cap, hat Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) beim heutigen EU-Gipfel in Brüssel in Sachen Verhandlungs-Aufnahme mit der Türkei "verantwortungslos agiert". Schüssel habe "gegen die Mehrheitsmeinung der österreichischen Bevölkerung zugestimmt, dass mit der Beitrittsverhandlungsprozess mit der Türkei begonnen wird", kritisierte Cap Freitag Abend.

Der Kanzler habe also "nicht den Mut gefunden dagegen zu stimmen". Und: auch alle angekündigten Einschränkungen "in Form diverser Stopptafeln und Ausstiegsszenarien" seien nicht eingetroffen.

Hinsichtlich der von Schüssel angekündigten Volksabstimmung gab Cap zu bedenken, dass diese erst in 10, 15 Jahren statt finden werde. Dann sei der Kanzler bereits "in tiefer Pension". Das zeige, dass Schüssel "die Bedenken der Bevölkerung nicht ernst nimmt" und sich über diese hinwegsetze.

Grüne: "Brüskierung des Parlaments"

Die Grünen sehen in der Ankündigung von Bundeskanzler Schüssel, eine Volksabstimmung in der Türkei-Frage abhalten zu wollen, eine "inakzeptable Vorgangsweise". Parteichef Alexander Van der Bellen hält die Vorgangsweise für eine "Brüskierung des Parlaments", meinte sein Sprecher am Freitag. "Schüssel glaubt offenbar, über die Medien von Brüssel aus dem Parlament diktieren zu können, was es zu tun hat", hieß es.

Van der Bellen will die Ankündigung inhaltlich vorerst noch nicht kommentieren. Man sei jedenfalls "verwundert". Er verlangt vom Kanzler "vor derartigen Äußerungen eine unverzügliche Information des Parlaments". Das Hohe Haus sei "keine Teilorganisation der ÖVP", dem der Kanzler in dieser Art etwas ausrichten könne. Offenbar habe man aber eine "Beruhigungspille für die FPÖ" gebraucht.

Die Regierung sei in der ganzen Türkei-Frage "offenbar uneinig und konnte sich auf keine gemeinsame Linie einigen". Für die Grünen hat die Regierung sogar das Regierungsprogramm gebrochen. Dort stehe nämlich, dass die Beitrittsbemühungen der Türkei unterstützt würden und keine anderen Kriterien angewendet werden sollen als bei allen anderen Beitrittswerbern.

FP-Bösch: "fehlende Kraft für ehrliches Nein" Der Europasprecher und stellvertretende Klubobmann der Freiheitlichen, Abg. Reinhard Bösch, bedauerte am Freitag in einer Aussendung, "dass der Europäische Rat nicht die Kraft hatte, sich für ein ehrliches Nein zu Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auszusprechen". Hingegen würden wenigstens die Gespräche mit offenem Ausgang geführt.

"Ich sehe gute Chancen, anstatt eines Vollbeitritts der Türkei einen Partnerschaftsvertrag am Ende der Verhandlungen zu realisieren", sagte Bösch. Er schlug - noch vor der dementsprechenden Ankündigung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) - unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen die Abhaltung einer Volksabstimmung vor. Mit der Ablehnung eines Beitritts der Türkei sehe er sich im guten Einvernehmen mit dem Großteil der Bevölkerung.

Ein möglicher Vertrag mit der Türkei sollte laut Bösch Modellcharakter für die Verhältnisse mit anderen Ländern wie etwa der Ukraine oder Weißrussland haben. Länder, mit denen die EU gute Beziehungen haben müsse, welche aber nie Mitglied werden könnten, so Bösch. Eine weitere Vergrößerung der Union dürfe es nur auf europäischem Boden und erst auf der Grundlage einer soliden wirtschaftlichen Basis geben.

"Als vor 40 Jahren damit begonnen wurde, der Türkei Avancen in Bezug auf einen Beitritt zu machen, war die Lage eine ganz andere. Wir hatten es mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu tun, die ausschließlich ökonomische Ziele verfolgt hat", sagte Bösch. Die lange Dauer von vier Jahrzehnten sei ein deutlicher Beweis dafür, dass das Angebot nie ernst gemeint gewesen sei.

Haubner will Volksabstimmung per Gesetz fixieren

Für FPÖ-Bundesparteiobfrau, Staatssekretärin Ursula Haubner, zeigt die Ankündigung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V), eine Volksabstimmung über einen Türkei-Beitritt abhalten zu wollen, dass die "klare Linie der Freiheitlichen" auf fruchtbaren Boden gefallen sei.

Wie Haubner am Freitagabend erklärte, sei die FPÖ immer dafür eingetreten, bei so wichtigen Entscheidungen wie ein EU-Beitritt der Türkei die Bevölkerung zu befragen. Die FPÖ-Chefin forderte, dass - nachdem innerhalb der Koalition Einigung in dieser Frage bestehe - die Abhaltung einer Volksabstimmung schon jetzt per Gesetz festgeschrieben werden soll.

Die Vereinbarungen zwischen EU und Türkei über die bevorstehenden Verhandlungen zeigen für Haubner, "dass wir mit unseren Vorbehalten und unserer Kritik absolut Recht haben". Die "Schutzklauseln" und "eingebauten Stopps" seien grundsätzlich notwendig.

"Aus Österreichischer Sicht ist zu sagen: wenn wir nicht gewesen wären, wäre wohl nicht einmal das hineingekommen", so die FPÖ-Parteiobfrau. Grundsätzlich bleibe die FPÖ bei ihrer Meinung, dass eine Partnerschaft zwischen EU und Türkei besser gewesen wäre als der Beginn von Beitrittsverhandlungen, meinte Haubner.

Leitl begrüßt Volksabstimmung

Der Präsident der Wirtschaftskammer Österreich, Christoph Leitl, hat Freitag Abend den Plan von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) begrüßt, eine Volksabstimmung über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei in Österreich abzuhalten: "Ich gebe Wolfgang Schüssel absolut recht. Das Europa-Projekt muss von den Bürgern getragen werden, sonst wird es langfristig keinen Bestand haben. Wer will, dass die Türkei ein EU-Mitglied wird, muss die BürgerInnen überzeugen, und sie müssen in letzter Konsequenz Ja zu einem Beitritt sagen", so Leitl in einer Aussendung.

Leitl begründete seine Zustimmung zu einem Referendum damit, dass ein allfälliger Beitritt der Türkei etwa auf Grund der Größe des Landes, der noch vorhandenen Differenzen zu Europa anders zu sehen sei als etwa die EU-Beitritte von Tschechien oder Ungarn.

Und außerdem dürfe ein Beitritt - trotz der damit verbundenen wirtschaftlichen Chancen - die Handlungsfähigkeit der Union (Stichworte: Annahme einer EU-Verfassung, EU-Budget) nicht in Frage stellen: "Sowohl die EU als auch die Türkei müssen erst beitrittsreif werden. Der Beitritt muss politisch und finanziell verkraftbar sein. Und die BürgerInnen müssen das letzte Wort bei der Entscheidung haben."(APA)