Am Vorabend des 17. Dezember sind die Moderatoren der türkischen Fernsehsendern in Jubelstimmung: Es könne nicht anders sein, als dass man beim historischen Gipfel der Türkei die Tür ins Haus der Kulturen auf reißt. Wir sind der ewige Anwärter, heißt es, ein viel versprechendes Talent reift schließlich auch zum ganzen Könner. Man muss dieser Tage überhaupt die pathetischen Gesten und Volksansprachen der Medien - und vor allem die des Ministerpräsidenten Erdogan - in Klartext übersetzen. Die Zeit ist um. Eine neue Ära beginnt. Wir sind vorbereitet. Es gibt kein Zurück. Wir müssen uns ändern. In fünf Schritten will man die sieben Meilen überwinden, und am Ende dieser Strecke wird man "die große Verwandlung" vollzogen haben. Für einen Außenstehenden mutet es sehr exotisch an, wenn während der Politsendungen die Europahymne als Hintergrundmusik erklingt, eine ganze Stunde lang. Oder Erstklassler nach ihrer Meinung zur "Aufnahmetüchtig keit" der Türkei in die EU befragt werden. Wenn allerdings Kindermund Wahrheit kundtut, wird das Kind sofort eines Besseren belehrt: Nein, die Erwachsenen würden bestimmt nicht übertreiben, in dieser Schicksalsfrage gebe es kein Zittern und Zögern. Immer dann, wenn das mediale Fieber zu sinken droht, wird Erdogan, der erste Mann des Staates, eingeblendet. Man sieht ihn auf der obersten Treppenstufe vor der Fassade eines neogotischen Palastes stehen und Hände schütteln. Er ergreift die ihm entgegengestreckten Hände von Schröder, Chirac und Blair, er badet im Blitzlichtgewitter, und mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern überragt er (beinahe) alle Staatsmänner Europas. Man muss diese Bilder eigentlich nicht übersetzen, und doch sitzt immer ein "Experte" im Studio und erklärt den Türken die Welt: Unser Mann in Europa ist den Politgrößen mindestens ebenbürtig, man heißt ihn willkommen und begegnet ihm auf gleicher Augenhöhe. Nichts geht mehr ohne Erdogan, und er tut den aufgeputschten Medien den Gefallen und füttert sie mit dem typisch türkischen Pathos: Europa soll die erste Adresse für die Versöhnung der Zivilisation sein - ohne die Türkei ist es aber nur der Klub der Selbstgerechten. An die Adresse der Europäer geht auch seine Mahnung, sein Land erwarte weder Rabatt noch eine Preiserhöhung - es wolle genau die Summe auf dem Preisschild bezahlen. Er sei nicht gewillt, über neue Hürden zu springen, der Langstreckenlauf müsse sich nach 41 Jahren endlich lohnen.Kulturkrieger Spätestens jetzt, nach Tagen der Dauerbeschallung, wird man nicht etwa der Sache überdrüssig, der Furor der Schlachtenlenker in den Medien zeigt Wirkung. Haben die Türken die Krönungszeremonie nicht verdient? Soll man ihnen die unverfälschte Lust an Europa übel nehmen? Dann fallen einem die Kulturkrieger ein, die noch zu dieser Stunde den historischen türkischen Feind heraufbeschwören, oder aber von der territorialen Überdehnung des Europa-Im periums schwätzen. Ein Europa mit den Außengrenzen zu Syrien, Iran und dem Irak könne nicht anders, als in nationale Stücke zu zerreißen. Besonders die ewig kultur- nostalgischen Kreise im deutschsprachigen Raum haben Stimmung gegen einen westöstlichen Beitrittskandidaten gemacht, und es entstand der Eindruck, man wolle geradezu einen Schurkenstaat integrieren. Darüber ist man in der Türkei erstaunlicherweise gut unterrichtet. Der Vorschlag, mit den Türken eine privilegierte Partnerschaft zu versuchen, kam wirklich nicht gut an. Wir besprechen keine raffinierte Stellung im Bett, war zu hören, wir wollen es nicht als Bettgenossen zur Meisterschaft bringen. Selbstverständlich hält manch ein türkischer Hinterbänkler seine Zeit für gekommen, um im Glanze des Millenniumsprojekts bella figura zu machen. Die Türkei sei ab sofort das Schaufenster des Westens, und der Türke müsse sich ab sofort zum gläsernen Bürger für die Europäer wandeln. Wer übertreibt, gewinnt, ist die Losung, und die höchsten Politiker versichern dem Volk, dass es im Falle einer "Komplikation" einen Plan gebe. Am Tage der Entscheidung verheißen die auflagenstärksten Zeitungen den Türken ein neues Leben, die Visionäre rüsten zum letzten Gefecht. Doch dann platzt die Nachricht von der üblen Überraschung in der letzten Minute wie eine Bombe: Die Europäer beharren auf der Anerkennung Griechisch-Zyperns, auf ergebnisoffenen Verhandlungen. Der Oppositionsführer verlangt unter diesen Bedingungen einen sofortigen Abbruch der Verhandlungen, Erdogan dürfe sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Es kursieren Gerüchte darüber, dass der türkische Premier tatsächlich den Verhandlungstisch verlassen habe und nur auf Bitten und Flehen Schröders zurückgekehrt sei. Die Euroskeptiker wähnen sich plötzlich im Aufwind, warnen vor der Sozialerosion und dem Werteverfall, sollte aus dem Wahntraum Wirklichkeit werden. Das böse Wort von der Einflussnahme macht die Runde, von Manipulation hinter den Kulissen; in Brüssel werde die Kapitulation auf dem Papier erzwungen. Und das Volk? Die Menschen sind es leid, dass die Eu ropäer auf die Defizite und den geringen Reifungsgrad der Türkei verweisen. Bis vor Kurzem waren die Euro-Euphoriker in der Überzahl, nun aber kippt die Stimmung. Ernüchtert stellen die Türken fest, das sie vielleicht doch nicht den hohen Preis zu bezahlen bereit sind, den "das Abendland" von ihnen einfordert. Am Abend des 17. Dezember tritt Erdogan, nach tagelangen zähen Verhandlungen, vor die Presse und erklärt "die stille Revolution der Türken" für noch lange nicht beendet. Seine Blut-, Schweiß- und Tränenrede kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nun die kalten Techniker und die Paragrafendiplomaten auf den Plan treten. Eine Frage bleibt weiter offen: Ist das christliche Abendland bereit, einen muslimischen Giganten aufzunehmen? Manchmal sprengt die Ausnahme die Regel. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.12.2004)