Die jüngsten Enthüllungen auf insgesamt 9000 Seiten sind erst ein Teil der ganzen Wahrheit
Nach der Publikation neuer Dokumente über die gravierende Misshandlung und Folterung von Gefangenen im Irak laufen die Menschenrechtsorganisationen in den USA Sturm. "Human Rights Watch"-Chef Kenneth Roth gibt zwar zu, dass eine E-Mail, in dem ein FBI-Agent auf eine Anweisung von George W. Bush Bezug nimmt, noch kein Beweis dafür sei, dass der Präsident die Misshandlungen direkt befohlen habe. Wohl aber, so Roth, liege es nahe, "dass die Vernehmungspersonen unter dem Eindruck agiert haben, dass ihre Aktionen die Zustimmung des Präsidenten finden würden. Es ist nicht mehr genug, dass Bush ein einfaches Dementi herausgibt; eine wirkliche Erklärung ist notwendig".
Die Mär, bei den im Frühjahr bekannt gewordenen Folterungen im berüchtigten Abu-Ghraib-Gefängnis im Irak habe es sich um Einzelaktionen gehandelt, schien zwar schon längst widerlegt. Der Schwung an Dokumenten jedoch, der diese Woche publiziert wurde, beweist, dass die brutalen Übergriffe noch weiter verbreitet und schwerwiegender waren als ursprünglich selbst von Regierungskritikern befürchtet wurde.
D´ejà-vu
Der Skandal scheint selbst für das Weiße Haus nicht in seinen ganzen Dimensionen absehbar gewesen zu sein. Scott McClellan, Bushs Pressesprecher, versprach jedenfalls noch am Dienstag, der Präsident werde eine systematische Untersuchung veranlassen und dafür sorgen, "dass derartige Misshandlungen nicht wieder vorkommen".
Ein Statement, das für viele in Washington einen Hauch von Déjà-vu hat, da ähnliche Versprechungen bereits nach Bekanntwerden der Folterungen im Abu-Ghraib-Gefängnis geäußert wurden. Eine Sprecherin der American Civil Liberties Union (ACLU), Amrit Singh, erklärte, die bisher herausgegebenen 9000 Seiten umfassenden Dokumente seien nur ein geringer Teil eines Konvoluts, das noch freigegeben werden muss: "Was die Dokumente bisher gezeigt haben, ist, dass die Misshandlungen weit verbreitet und das Resultat von Entscheidungen hochrangiger Personen waren." Auf Verlangen der ACLU (siehe auch das Interview mit ACLU-Chefin Nadine Strossen, Seite 5) war Anfang der Woche unter dem "Freedom of Information Act" die erste Serie einer Reihe von Mitteilungen, teils in stark zensurierter Form, freigegeben worden.
Darunter findet man ein E- Mail eines FBI-Beamten vom 22. Mai, der sich mehrfach auf eine von Bush selbst unterzeichnete Anweisung bezieht, derzufolge Missbrauch von Gefangenen von höchster Stelle autorisiert worden sei. Dies wird vom Weißen Haus und anderen Regierungsstellen dementiert: eine solche "executive order" habe nie existiert. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.12.2004)