Hans Christian Andersens Märchen sind echte Weltliteratur. "Des Kaisers neue Kleider" und "Die kleine Meerjungfrau" werden Kindern in über 100 Sprachen vorgelesen. Viele große Künstler haben sie illustriert. Was gibt es da noch Neues zu entdecken? Zu Andersens 200. Geburtstag im Jahr 2005 hat sich eine Reihe von Illustratoren dieser Aufgabe gestellt.

Die eindrucksvollste Andersen-Neuausgabe ist Nikolaus Heidelbachs "Märchen" (€ 38,-/372 Seiten, Beltz & Gelberg, Weinheim 2004), eine Auswahl von 43 der 156 Andersen-Märchen. Andersens Geschichten sind kunstvoll gebaut und durchzogen von Anspielungen und feinem Humor. Heidlbach hat etwas ganz Schlichtes getan, um sich von allen Klischees zu lösen, die wir zu Klassikern wie der "Prinzessin auf der Erbse" im Kopf haben: Er hat genau gelesen. So heißt es am Ende dieses Märchens: "Und die Erbse kam in die Kunstkammer." Wie sie dort wohl ausgestellt wurde? Das malt Heidelbach in seinem altmeisterlich perfekten, detailgenauen Stil aus: Sie ruht auf einem Biedermeiertisch unter einer hohen, schmalen Glasglocke oben auf 40 Matratzen. Über der Erbse schwebt an einem Faden in Miniatur die nackte Prinzessin - zusammen mit dem großen, phallisch wirkenden Glaskolben eine deutlich spürbare Anspielung auf den erotischen Gehalt des Märchens.

Wie ein Fotograf, der beim Fußballspiel nicht die Sportler, sondern das Publikum vor seine Linse holt, zeigt Heidelbach in "Des Kaisers neue Kleider" nie den nackten Monarchen. Er beschränkt sich auf die Betrüger, die nichts in der Hand haben, sich aber aufspielen, als hätten sie einen erlesenen Stoff, auf das Gefolge des Kaisers und den Jungen, der mit der Wahrheit herausplatzt: "Aber er hat ja nichts an." Solche Illustrationen sprechen die innere Bilderwelt des Betrachters an.

Wie hintersinnig Heidelbach arbeitet, wird bei "Das hässliche Entlein" deutlich. Da ist die Eierschale zu sehen, aus der das Entlein gerade geschlüpft ist. Die Schale ist so entzwei gebrochen, dass die Kante bei genauem Hinschauen das Profil eines langnasigen Mannes zeigt. Es ist unverkennbar Hans Christian Andersen, der sich in diesem Märchen ein Denkmal gesetzt hat. Andersen war "eine lange, schlottrige, lemurenhaft-eingeknickte Gestalt mit einem ausnehmend hässlichen Gesicht" schreibt Friedrich Hebbel in seinem Tagebuch. Doch wie das hässliche Entlein sich in einen stolzen Schwan verwandelt, bekam der arme, verwachsene Schustersohn aus dem dänischen Odense als berühmter Dichter Zugang zu den großen Fürstenhöfen.

Dass Andersen in seinen Märchen viel von sich selbst erzählt hat, zeigt Günter Grass noch deutlicher in "Der Schatten" (€ 39,50/280 Seiten, Steidl, Göttingen 2004). Bei ihm beginnt die Geschichte vom hässlichen Entlein mit der Lithografie eines Entenkopfes, hinter dem das Profil des Dichters zu sehen ist, und die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Grass spielt in seinen kraftvollen Schwarz-Weiß-Lithografien immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Dichter und Märchen an. Entstanden ist ein opulenter Bildband, ein sehr persönlicher Zugang. Die letzte Illustration zeigt die Gesichter von Andersen und Grass, die einander anblicken: beide mit langer Nase, auch da ist eine gewisse Ähnlichkeit nicht zu leugnen.

Joel Stewarts Andersen-Interpretation in "Das große Märchenbuch" (€ 19,90/208 Seiten, Sauerländer, Düsseldorf 2004) ist weniger originell, sie überzeugt durch zart-zurückhaltende Bilder und Vignetten, die den Bilderreichtum der Märchentexte eher einrahmen, als aktiv auf ihn zu antworten. Stewart lässt jedes Märchen auf einer Bühne beginnen, und es tauchen immer wieder eine gute und eine bösen Fee auf, die sich zu Beginn des Buches ein Wortduell über Andersen geliefert haben. Doch das ist Zierrat, ein vertieftes Verständnis der Texte gelingt dadurch nicht.

Klassisch sind Svend Otto Sörensens Bilder in "Die schönsten Märchen von H.C. Andersen" (€ 19,90/222 S., Lappan, Oldenburg 2004). Wem zu Weihnachten ein bisschen nostalgisch ums Herz ist, der sollte sich das Märchen "Der Weihnachtsmann" anschauen, eine wunderschön-traurige Geschichte über die Vergänglichkeit mit Bildern aus einem altertümlichen, festlich geschmückten Weihnachtszimmer, in das Kinder mit leuchtenden Augen eintreten.

Den krassen Gegensatz dazu liefert die "Märchensammlung Andersen" (€ 29,90/208 Seiten, Die Gestalten Verlag, Berlin 29004). 13 internationale Autoren haben die Märchen modern interpretiert, mit Scherenschnitten, Pop Art oder im Fall von "Das Kind im Grabe" abstrakt. Danny Franzreb bebildert die Geschichte von der Mutter, die ihr gestorbenes Kind nicht gehen lassen kann, mit dunklen Flecken, die an die Ultraschall-Bilder von einem Fötus im Mutterleib erinnern. Das lässt Raum für Assoziationen. Aber es knallt doch sehr auf den vertrauten, altertümlichen Märchen-Tonfall. Da fällt schwer, einen Zusammenhang herzustellen.

Doch muss durch die Bilder nicht zwangsläufig eine altmodische Atmosphäre heraufbeschworen werden. Linda Wolfsgrubers traumhaft schöne Illustration von Andersens "Däumelinchen" (€ 18,-, Bibliothek der Provinz, Weitra 2004) verlegt das Märchen an einen zeitlosen Ort. Die Wiener Künstlerin fängt die Geschichte von dem nur daumengroßen Mädchen mit zarten Strichen auf ungewöhnlichen Bildausschnitten ein. Von der Frau zum Beispiel, die sich so sehr ein Kind wünscht, dass sie zu einer Hexe geht und dann eine winzig kleine Tochter bekommt, sind nur Kinn, Mund und Nasenspitze sowie später zwei Finger zu sehen. Das konzentriert den Blick auf die kleine Heldin, die wie so oft bei Andersen zu Großem fähig ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25./26.12.2004)