Das Ausmaß der Flutkatastrophe hätte nach Ansicht vieler Wissenschafter reduziert werden können, wenn es für den Indischen Ozean ein entsprechendes Frühwarnsystem gegeben hätte. Zwar wäre die Zerstörung dieselbe geblieben, doch hätten viele Menschenleben gerettet werden können: Nach Berechnungen hätte die Vorwarnzeit je nach Küstenregion bis zu drei Stunden betragen können.

"Es gab immer wieder Initiativen, in dieser Region ein seismisches Überwachungsnetz nach Vorbild der pazifischen Gefahrenzone zu installieren", erklärt Heiko Woith vom deutschen Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) im Gespräch mit dem Standard: Doch hätten "Anrainerstaaten das nötige Geld nicht aufgebracht, die internationale Staatengemeinschaft auch nicht, und außerdem hat die Einsicht in die Notwendigkeit gefehlt." Selbst im relativ reichen Mittelmeerraum gebe es kein Frühwarnsystem, obwohl auch hier Ähnliches passieren könne. Die Kosten für für ein solches System gingen zwar in zweistellige Euromillionenbeträge, "was aber im Vergleich zu den Schäden ein Witz ist", meint der Geologe.

Tsunamis entstehen vorwiegend in Subduktionszonen (siehe Grafik): dort wo Erdplatten derart aufeinanderkrachen, dass die eine unter die andere abtaucht. Dabei komme es zu Beben, dadurch zu enormen Materialverschiebungen der Erdkruste. Im aktuellen Fall dürfte der Meeresboden auf einer Länge von gut 1000 Kilometern mehr als zehn Meter abgesackt sein – nach einem Beben mit der Stärke 9 wie die US-Bebenwarte Montag mitteilte.

Dieses plötzliche Absacken des Meeresbodens führt – im Gegensatz zu Sturmwellen, die sich über die Wasseroberfläche ausbreiten – zu extrem langwelligen, auch die tiefen Wasserschichten mitreißenden Wellen. Der Abstand von Wellenberg zu Wellenberg kann mehrere hundert Kilometer betragen, ihre Höhe jedoch, also der Abstand zwischen Wellenberg und -tal, beträgt meist nur einen Meter. Weshalb ein Tsunami auf offe 3. Spalte ner See ungefährlich und kaum wahrzunehmen ist. Trifft er auf flacheres Wasser, stauen sich untere Wassermassen und türmen sich auf: bis zu 30 Meter. Die höchste Flutwelle am vergangenen Sonntag soll etwa zehn Meter hoch gewesen sein.

Etwa 86 Prozent aller Tsunamis werden von Seebeben ausgelöst, der Rest durch Vulkanausbrüche, Unterwasserlawinen und Meteoriteneinschläge. Die Geschwindigkeit eines Tsunamis hängt primär von der durchschnittlichen Wassertiefe ab – je tiefer, desto schneller. Da der Indische Ozean im Schnitt etwa 4000 Meter tief sei, habe sich der jüngste Tsunami laut Heiko Woith mit etwa 720 Kilometern pro Stunde ausgebreitet. Und zwar nach allen Seiten gleichförmig rund um das Bebenzentrum: "Von Inseln lässt sich die ringförmige Ausbreitung solcher Wellen nur schwach ablenken, auch wird sie kaum gebremst", sagt der Geologe. "Im Extremfall kann ein Tsunami von Alaska bis nach Chile rasen."

Von dort bis nach Hawaii raste eine solche Flutwelle 1946. Zwei Jahre nach dieser Katastrophe errichteten die USA dort das Pacific Tsunami Warning Center (PTWC). Was als Schutz für die US-Bevölkerung begann, ist inzwischen zu einem multinationalen Netzwerk geworden. Mehr als 20 Pazifik-Anrainerstaaten beteiligen sich heute an diesem System: Die Pazifische Platte wird von zahlreichen Subduktionszonen begrenzt. Deshalb ist das Tsunamirisiko in dieser Gegend am höchsten.

20 Tsunamiwarnungen Vor den Küsten, vor allen vor den USA und Japan, sind Seismometer am Meeresgrund verankert, über Kabel mit Bojen verbunden, die über Funk die Daten von unterseeischen Beben an Kontrollzentren weiterleiten. Die Daten werden mit Pegelstandmessungen und Computermodellen abgeglichen, im Ernstfalle die Bevölkerung alarmiert. Von 20 Warnungen in den vergangenen 50 Jahren entpuppten sich zwar 15 als Fehlalarme, doch konnten in den anderen Fällen die Menschen meist fünf Stunden vor Eintreffen den Wellen gewarnt werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.12.2004)