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Der Niederösterreicher Jürgen Melzer blickt über die Netzkante hinaus und will (noch) weiter hinauf.

Foto: AP/Jönsson

Wien - Sehnt sich Jürgen Melzer daheim in Deutsch Wagram nach Ruhe, hat er Pech gehabt. Das Flanieren auf Haupt- und Nebenstraßen oder das Aufsuchen gemeinnütziger Plätze wie zum Beispiel von Wirtshäusern ist äußerst problematisch. Er wird angesprochen, berührt, Schläge auf die Schulter sind vorprogrammiert ("wie geht's, Jürgen kennst mi noch, toi, toi"). Was insofern lästig ist, weil gerade bei einem Tennisspieler dieser Körperteil besonders sensibel reagiert.

Melzer hat das Massel, auf Deutsch Wagram nicht unbedingt angewiesen zu sein, die Welt ist groß und anonym genug. Sie bietet Ausweichmöglichkeiten, zum Beispiel eine Eigentumswohnung in Wien, die Melzer aus beruflichen Gründen nur selten nützen kann, Tennisprofis residieren eher in Flugzeugen und Hotels. "Wehalb soll ich jammern, ich mache es freiwillig. Ich führe eine Leben, das andere gern hätten."

Sein nächster Flieger landet in Adelaide, wo er ab 3. Jänner die Saison eröffnet. Weitere ATP-Turniere und natürlich die Grandslams folgen, wie viele Einsätze es Ende 2005 sein werden, vermag er noch nicht abzuschätzen. "Der Plan hängt davon ab, ob du früh oder spät ausscheidest. Und ob du gesund bleibst."

Der 23-jährige Melzer sagt, nun beginne das zweite Drittel seiner Karriere. Hätte vor zehn Jahren in Deutsch Wagram jemand behauptet, er werde einmal die Nummer 40 der Welt und der Beste in Österreich sein, "hätte ich sofort unterschrieben." Diese Bescheidenheit war einmal "und darf im Sport nicht sein. Ich versuche nun, mich in den Top 20 festzusetzen. Auch wenn es goschert und überheblich klingt, es ist sogar mehr möglich."

Rückblick: 1999 gewann Melzer den Juniorenbewerb in Wimbledon. "Das war der Beweis, dass ich Talent besitze und auf dem Weg bin." Andererseits, nachher ist man klüger, "stellte sich ein gewisser Schlendrian ein. Mir konnte es nicht schnell genug gehen, der Erfolg hat falsche Erwartungen geweckt." Immerhin hat er die Matura gepackt.

Sollte es so etwas wie einen Knopf, der aufgeht, beziehungsweise einen Knoten, der platzt, geben, war das einer glatten Auftaktniederlage im März dieses Jahres zu verdanken. In Indian Wells und gegen den Rumänen Hanescu. Diese Pein bedingte ein mehrstündiges Gespräch mit Trainer Karl-Heinz Wetter. "Das war wegweisend. Ich kapierte, dass man schuften muss. Seither weiß ich, was Knochenarbeit und Opferbereitschaft bedeuten." Es folgten Siege gegen Agassi oder Safin, der erste ATP-Titel fehlt trotzdem noch. "Der wird irgendwann passieren. Ziel ist, die Möglichkeiten auszureizen."

Persönlichkeiten

Melzer glaubt, dass ihm ein gewisses Charisma auch außerhalb Deutsch Wagrams gegeben ist. "Ich verstehe nicht ganz, dass dauernd gejammert wird. Wir sind alle Persönlichkeiten, nur lässt man es uns nicht immer zeigen. Weil es um verdammt viel Geld geht, sind die Regeln streng." Man solle sich am Spiel ergötzen. "Tennis soll bleiben, wie es ist. Die Perfektion eines Roger Federer ist unbeschreiblich, den idealen Profi braucht man nicht zu erfinden, ihn gibt es."

Seit acht Jahren arbeitet Melzer mit Wetter. "Ich akzeptiere nicht, wenn man ihn kritisiert. Mit ihm habe ich mich dauernd verbessert." Das Faszinierende am Tennis sei die Dichte: "Jedes Match ist eine Prüfung. Ich kann gegen 200 andere verlieren. Und auch ein Finale gegen Federer gewinnen." Dann, so Melzer, wäre gewiss einiges los. Fern ab von Deutsch Wagram. (Christian Hackl - DER STANDARD PRINTAUSGABE 28.12. 2004)