Die größte Herausforderung für Juschtschenko besthe darin, zivilisierte und gleichwertige Beziehungen mit dem russischen Establishment aufzubauen und einen möglichen "Kalten Krieg" zu verhindern, meint Vladimir Polochalo.

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Juschtschenko-Anhänger feiern den Sieg.

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Mit dem Sieg von Viktor Juschtschenko haben sich in der Ukraine vorerst die proeuropäischen Kräfte durchgesetzt: Die schwierigste Aufgabe besteht nun darin, mit Russland einen "Kalten Krieg" zu verhindern.

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Den "dritten" Durchgang der ukrainischen Präsidentschaftswahlen hat also erwartungsgemäß Viktor Juschtschenko gewonnen. Somit werden die Ukrainer das neue Jahr zwar mit dem alten Präsidenten beginnen, das alte Jahr aber, das in der Ukraine gemäß orthodoxem Kalender am 13. Jänner endet, schon mit einem neuen Präsidenten verabschieden.

Werden dies aber gleichzeitig Abschiede von den undemokratischen politischen Werten, Praktiken und Standards des alten Machtsystems sein, gegen die die "orange Revolution" gerichtet war? Kann man annehmen, dass mit der Wahl des Oppositionsführers zum Präsidenten die Ukraine mit mehr als 47 Mio. Menschen nun endlich aus der grauen Zone zwischen "Demokratie und Autoritarismus" tritt und bereits auf eine baldige Anbindung an die demokratische Gemeinschaft der europäischen Staaten "programmiert" ist?

Demokratie nicht vorprogrammiert

Für eine positive Antwort gibt es meines Erachtens einstweilen noch nicht genug Anhaltspunkte. Wiewohl zweifellos: Die Ukraine durchlebt heute wirklich ihre eigene friedliche demokratische Revolution – und zwar sowohl im Massenbewusstsein, als auch auf institutioneller Ebene; d.h. hier gehen auf weite Strecken die gleichen Prozesse vor sich wie seinerzeit in den zentraleuropäischen Länder von Polen bis Serbien. Im Unterschied zu den ehemaligen postsozialistischen Staaten starteten die postsowjetischen Länder zwar von einem Punkt aus, entwickelten sich aber bei Weitem nicht gleich.

Viele Unterschiede

In vielem unterschieden sie sich: Da waren die Impulse zur national-staatlichen Selbstbestimmung, die sie im Laufe des Zerfalls der Sowjetunion erhielten; ihre geopolitische Lage; ihre national-zivilisatorische Identität; ihre soziokulturellen Bedingungen; die Qualität der politischen Eliten; das Ausmaß des Einflusses auf den politischen Prozess seitens der westlichen Demokratie. All dies führte zur typologischen Verschiedenheit der politischen Regime. Gemein war den meisten Staaten in der postsowjetischen Welt doch nur die Form der Führung – die Institution der Präsidentschaft als einziges Produkt der Zersetzung und Transformation der parteistaatlichen Strukturen.

Präsident als Hauptinstitution

Zur Hauptinstitution für die Bestimmung des politischen Kurses wurden im Grunde genommen die Präsidentschaftsposten, die von ein und denselben postsowjetischen Führungsleuten eingenommen wurden. Nur die baltischen Länder nützten im vollen Programme die demokratischen Impulse beim Zerfall der Sowjetunion und die dritte Welle des demokratischen Transits sowie die Hilfe seitens des Westens, um einen bewusst gewählten und nicht einen scheindemokratischen Kurs zu verwirklichen.

Wesen unverändert

Heute nach dem EU-Beitritt ist es unwahrscheinlich, dass diese Staaten von diesem Weg abkommen. Was die anderen zwölf ehemaligen Sowjetrepubliken betrifft, so gingen sie 13 Jahre im Kreis des Autoritarismus, der nur seine äußere Form aber nicht sein Wesen abänderte. Im Unterschied zu den Baltischen Staaten und in wesentlichem Ausmaß auch von der Ukraine, die aus der Gefangenschaft des postsowjetischen Autoritarismus auszubrechen versucht, illustriert vor allem das heutige "Putin'sche Russland" leuchtend die Gesetzmäßigkeit und Unausweichlichkeit der Rückschritte, von denen die weltweiten Demokratisierungsprozesse begleitet werden.

Aggressive Außenpolitik

Weil diese Regime auf der Vertreibung der Opposition aus der Politik gründen und gleichzeitig die radikal-nihilistischen Stimmungen in Elite und Volk gegenüber westlichen Werten kultivieren, ist ihnen eine natürliche Aggressivität auch im außenpolitischen Verhalten immanent. Besonders im Widerstand gegen die "globale Expansion der Demokratie" – vor allem in der Ukraine. Die potenzielle Demokratisierung der Ukraine kann als Resultat der "orangen Revolution" und Juschtschenkos Wahlsieges zu einem Multiplikationseffekt führen und das Potenzial des Autoritarismus selbst in Russland sprengen.

Russland könnte Rache nehmen

Dessen ist sich Putins Regime bewusst, sodass es auf Janukowitsch setzte. Es hat den Anschein, dass Russland bei den ukrainischen Parlamentswahlen 2006 Rache nehmen wird, indem es die oligarischen, prorussischen Gruppierungen unterstützt und die Karte des "bürokratischen Separatismus" ausspielt. Somit besteht die größte Herausforderung für Juschtschenko darin, zivilisierte und gleichwertige Beziehungen mit dem russischen Establishment aufzubauen und einen möglichen "Kalten Krieg" zu verhindern.

Entstehende Zivilgesellschaft

Der Sieg Juschtschenkos zeugt davon, dass die Wahlresultate unterschiedliche politische Kräfte rund um eine "europäische" und eine "eurasische" Wahl der Ukraine polarisieren. Man kann die "orange Revolution" auch als Resultat der Kraft einer entstehenden Zivilgesellschaft und als massenhafte Bewusstwerdung einer "europäischen Wahl" für die Zukunft der Ukraine betrachten. Gemäß einer Umfrage des Razumkov- Instituts aus der zweiten Dezemberhälfte will mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen EU-Beitritt, nur 29 Prozent sind dagegen.

Europa-Befürworter

Das Bild Europas ist für die Ukrainer annehmbarer als das Bild des Putin'schen Russland. Die Ukrainer beginnen zu verstehen, dass "Europäertum" von fairen Wahlen, Pressefreiheit, Rechtsstaat abhängt – d.h. dass "Europäertum" vor allem das Resultat eines neuen innenpolitischen Kurses ist. Die Ukraine braucht heute großflächige politische und ökonomische Modernisierungen, die ohne grundlegende Erneuerung der politischen Elite nicht möglich sind. Gerade das 13 Jahre lange Fehlen einer unabhängigen Rotation der Elite führte zur Dominanz von Oligarchengruppen in Politik und Ökonomie, außerdem zum Bestreben, sich in zwei einander ausschließende Strukturen zu integrieren – in die EU und in den einheitlichen Wirtschaftsraum mit den autoritären Staaten Russland, Weißrussland und Kasachstan.

"Orange Revolution" fordert auch Juschtschenko heraus

Genau dagegen war die "orange Revolution" gerichtet. Die antioligarchische, antiautoritäre Komponente in der "orangen Revolution" ist meines Erachtens eine der ernsthaftesten Herausforderungen für Juschtschenko und sein Team. Kann Juschtschenko eine effektive Regierung und eine demokratische Mehrheit im Parlament formieren, die die überhöhten proeuropäischen Erwartungen der Mehrheit der Ukrainer rechtfertigt? Wird der Einfluss der stärksten Oligarchengruppen verringert werden?

Darauf gibt es unter den unabhängigen Experten keine eindeutige Antwort. Die Massenproteste der Bürger haben bislang den Widerspruch zwischen Gesellschaft und Staatsmacht, zwischen politischer Kultur des autoritären Typs und demokratischer Politkultur in unterschiedlichen Segmenten der politischen Elite noch nicht überwunden. Der politische Kompromiss, den die Elite am 8. Dezember mit dem Resultat der Verfassungsänderung hin zu einer Abwertung des Präsidentenamtes ab 1. September 2005 erzielt haben, wird von vielen als Verrat an den Zielen der "orangen Revolution", vielmehr als Herstellung der Bedingungen zur Beibehaltung des oligarchischen Regimes gedeutet.

Harte Konfrontation

So sieht es auch die einflussreiche ukrainischen Politiker Julija Timoschenko und einige Anführer der für die Revolution so bedeutenden Bewegung "Pora". Die schwierigste Aufgabe liegt darin, Wege zur Annäherung der politischen Orientierung der Bevölkerung und der neuen Macht im Kontext der europäischen Wahl der Ukraine auszuarbeiten, zumal unter den Bedingungen einer harten Konfrontation mit der Opposition.

Ob dieser demokratische Trend in Schwung kommen wird und die europäische Wahl die Sympathien der Mehrheit der Bürger behalten kann, werden erst die Parlamentswahlen 2006 zeigen. Sie werden zum Moment der Wahrheit hinsichtlich einer endgültigen Bestimmung von Ukraines gesellschaftlich-politischer Entwicklung auf absehbare Zukunft werden. (DER STANDARD, Printausgabe 29.12.2004)