Die Auseinandersetzung mit dem totalitären Geheimdienst hängt in jedem ehemaligen Ostblockstaat auch mit der Verhinderung der Spurenbeseitigung, der Aufarbeitung der Dokumentation der Repression und mit dem damit verbundenen Konflikt zwischen Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz zusammen. Die Erforschung der oft bewusst vernebelten Strukturen der Verstrickung und Schuld war und bleibt freilich auch eine hochpolitische Angelegenheit nicht nur in Deutschland, sondern auch zum Beispiel in Ungarn.

In Budapest erschien dieser Tage ein schmaler broschierter Band - "Im Schatten des Rampenlichts. Das ungekürzte Luzsnyanszky Dossier". Es handelt sich um eine Piratenausgabe mit etwa 182 fotokopierten Spitzelberichten aus den Geheimdienstarchiven des 1997 gegründeten "Historischen Amtes". Alle waren von einem gewissen "Robert Luzsnyanszky" in den Jahren 1963-1979 verfasst und von dem jeweiligen für den Agenten zuständigen Geheimdienstoffizier gegengezeichnet.

Unter dem Decknamen verbarg sich der angesehenste ungarische Theaterkritiker, der als Gegenleistung in einer Zeit der sehr eingeschränkten Bewegungsfreiheit von Mexiko bis Kanada die ganze Welt in der Begleitung von ungarischen Theater- und Künstlergruppen bereisen durfte. Der prominente Spitzel hatte seine Tätigkeit während des Kadar-Regimes in einer knappen Presseerklärung zugegeben.

In den letzten zwei Monaten gab es übrigens drei weitere Aufsehen erregende Enthüllungen in Ungarn: über einen berühmten Fußballspieler, einen Rocksänger und einen Starjournalisten, die für kürzere oder längere Zeit Spitzeldienste geleistet hatten. Unter dem Vorwand der Forschung erhalten also auf Profit oder politischen Vorteil erpichte Journalisten und Manipulatoren auch direkten, ungeschwärzten Zugang zum personenbezogenen Material.

Im Gegensatz zu der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin, dem international anerkannten Vorbild für die Aufarbeitung der Vergangenheit, haben in Ungarn fünf Geheimdienste im Grunde die ungebrochene Verfügungsgewalt über den Zugang zur Hinterlassenschaft des Kadar-Regimes, zu den Lügen und Denunziationen einer nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit behalten können. Als die Geheimdienstvergangenheit des damaligen Ministerpräsidenten Medgyessy 2002 bekannt wurde, haben die regierenden Sozialisten und Liberalen eine "Aktenrevolution" versprochen.

Daraus ist nicht viel geworden. Nun hat Ministerpräsident Gyurcsany und der neue sozialistische Parteichef Hiller (beide Anfang 40) die Flucht nach vorn angetreten und eine Offenlegung aller Dokumente aus der Zeit zwischen Dezember 1944 und Februar 1990 versprochen.

Bisher war nur der Verband der Freien Demokraten (SzDSz) ein konsequenter Vorkämpfer der Aufarbeitung und der Veröffentlichung der Namen der rund 11.000 Agenten, die 1989 in Evidenz geführt waren. Der mutigste Behördenforscher, der Journalist Janos Kennedi schätzt, dass noch 50- bis 60.000 Angehörige der damaligen politischen Elite Dreck am Stecken haben.

Das gilt auch für eine unbekannte Zahl von kirchlichen Würdenträgern. Da Gesetze dieser Tragweite nur durch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, also mit Zustimmung der Opposition beschlossen werden können, sind langwierige Verhandlungen zu erwarten.

Besonders heikel ist die Angelegenheit der Auslandsagenten. Es gibt freilich keine ideale Lösung 15 Jahre nach dem Systemwechsel. Ohne eine Abrechnung mit dem "institutionellen System der öffentlichen Verlogenheit" (so Kennedi) ist aber kein echter Schlussstrich möglich. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.12.2004)