Russland kann nur durch die europäische Zivilisation gerettet werden, meint der in Moskau lebende tschetschenische Autor und Philosophieprofessor Salman Vacanajew im Gespräch mit Eduard Steiner. Wer immer einen nationalen Sonderweg fern des europäischen Demokratiemodells propagiert, betrügt das eigene Volk. Das gilt für Russland genauso wie für alle islamischen Länder.


STANDARD: Herr Vacanajew, Ihre Philosophie kreist zentral um den Begriff des Logos. Worin liegt die Kraft des Wortes?

Salman Vacanajew: Es kann keine Demokratie in Russland und in Tschetschenien geben, wenn nicht zuvor das Wort, die Idee dazu ausgesprochen wird. Diese aber braucht nicht neu erfunden zu werden, denn als universelles Pharmazeutikum gibt es die europäische Zivilisation, die sich über Jahrhunderte gebildet hat.

Die Deklaration der Menschenrechte kommt letztlich aus dem Christentum. In der Bergpredigt heißt es: Verhalte dich zu jedem so, wie du es von ihm erwartest. Zuerst war das eine religiöse Maxime, und dann wurde sie allmählich zur Deklaration und Norm - das ist die Errungenschaft der westlichen Zivilisation.

Es ist lächerlich, wenn politische Führer in Umgehung dieses Modells ein besonderes Los des eigenen Volkes propagieren - einen slawischen, einen eurasischen oder einen islamischen Weg. Sie alle sind innere Okkupanten des eigenen Volks.

STANDARD: Die Individualität spielt für Sie eine große Rolle.

Vacanajew: Das kommt von Demokrits Atomlehre. Gehen wir allerdings vom christlichen Konzept aus, das ja einen persönlichen Gott und beim Menschen eine unsterbliche Seele und einen freien Willen annimmt, darf man nicht von Individuum, sondern muss man von Persönlichkeit, Personalität in seiner Einzigartigkeit sprechen. Der Mensch ist Selbstzweck - das ist die erste Stufe der Freiheit. Die zweite, höhere Stufe der Freiheit ist die Freiheit der anderen, sprich, dem Nächsten zu dienen.

Weder der Islam noch der Judaismus haben einen persönlichen Gott, Allah oder Elohim ist von der Wurzel her unpersönlich. Daher haben sie auch nicht das Prinzip der Persönlichkeit als oberste Grundlage. Auch die russische Orthodoxie hat den kollektivistischen Gemeinschaftsbegriff über die Persönlichkeit gestellt. Die kommunistische Sklaverei ist die Fortsetzung der orthodoxen autokraten Sklaverei.

STANDARD: Was hat das mit dem Tschetschenienkonflikt zu tun?

Vacanajew: Die Tschetschenen gingen schon vor ihrer Christianisierung von einem persönlichen Vaterbegriff als Gottesbegriff aus - also von der Idee eines persönlichen freien Willens. Als der Islam nach Tschetschenien kam, wurde er mit der christlichen Konzeption kombiniert. Der tschetschenische Suffismus, dem die meisten anhängen, ist also im Unterschied zum übrigen Islam vom Personalismus charakterisiert. Im Namen Allahs die Würde der Persönlichkeit einzuschränken wurde nicht zugelassen.

Wir haben in den letzten Kriegen ein Lehrstück der Würde geliefert, weil wir als Europäer für die europäische Zivilisation gekämpft haben. Wir sind ein Vorwurf an Europas Gewissen, das wegen Öl und Gas vor Russland niederkniet. Schröder und Blair müssen verantworten, dass sie dem kranken russischen Freund nicht helfen, sondern mit ihrem Liebesspiel gegen die Zukunft Russlands auftreten. Man müsste Russland aus dem Abgrund herausholen, in den es fliegt.

STANDARD: Russland ist krank?

Vacanajew: Ich will kein Koch der tschetschenischen Küche sein. Denn worin unterscheidet sich das Leiden der tschetschenischen Mütter von dem der russischen Mütter, die dort ihre Soldaten verloren haben?! Die russische Führung hat das Volk okkupiert und verweigert ihm das Primat des Gesetzes, sprich die europäische Zivilisation.

Heute ist die Tragödie für Russland nicht das tschetschenische Volk. Das Wichtigste ist, dass die Idee der Freiheit und somit das russische Volk getötet wird. Und das Volk versteht es nicht. Denn seit Jahrhunderten trichterte man ihnen die Sklaverei ein. Sie sind noch stolz auf ihr Leiden und ziehen daraus die Analogie, dass man auch andere töten darf. Das ist die Nekrophilie des russischen Geistes.

Wir haben in Russland einen Kapitalismus der Nomenklatura, einen Oligarchismus, was gleichbedeutend ist mit Mafia. Wenn Putin wirklich die Nation retten will - was nicht leicht ist, weil er riesige Verbrechen seiner Vorgänger geerbt hat, was ich aber sehr hoffe - dann muss er es schneller tun. Mit Machtvertikale wird es nicht gehen, nur mit europäischem Liberalismus.

STANDARD: Wir haben aber in Tschetschenien auch das Problem des Islamismus.

Vacanajew: Das ist eine russische Erfindung. Als die Russen mit ihrer äußeren Okkupation im ersten Tschetschenienkrieg versagten, schickten sie in der Gestalt des Islamismus den inneren Okkupanten. Um uns vor dem Westen zu diskreditieren und um vor den Russen selbst ein Spektakel aufzuziehen. Der Islamismus hat nichts Gutes gebracht. Er machte alles, um die tschetschenische Nation zu zerstören. Die Standards des Wahhabismus entsprechen nicht den ethischen Normen der Tschetschenen. Religion ist eine private Angelegenheit. Islamische Politiker - das ist genauso unheilvoll wie Orthodoxe in der Politik.

Patriarch Alexi II. segnet den Krieg und schließt mit dem Verteidigungsministerium einen Vertrag für die Ritualdienste. Je mehr russische Offiziere getötet werden, umso größer die Kasse der Orthodoxie.

STANDARD: Wie stellt sich die Geiselnahme von Beslan für Sie dar?

Vacanajew: Das ist natürlich schrecklich. Immer sterben Unschuldige. Es gilt aber, über Ursachen und Folgen nachzudenken. Wer von denen, die den Krieg angezettelt haben, trägt die Verantwortung? Der Krieg begann, weil es an politischer Kunst fehlte. Hat man Kraft, braucht man keinen Geist, heißt es. Der Genozid verlangt nach einem internationalen Tribunal und nach Reue der Russen. Wir brauchen das gegenseitige Glück, um als Völker wieder zusammenleben zu können.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.12.2004)