Neben Rauchfangkehrer und Hufeisen, Schweinchen und vierblättrigem Klee zählt der Fliegenpilz zu den beliebtesten Glücksbringern zur Jahreswende. Aber warum? Weder kommt er besonders selten vor, noch ist er kostbar – und zu allem Überfluss auch noch giftig. Was also prädestiniert das Männlein, das im purpurroten Mäntelein im Wald steht, zum Glücksbringer?
Die am häufigsten genannte Erklärung geht auf Wotan (auch: Odin) zurück, den germanischen Gott der Ekstase und Erkenntnis. Der Sage nach reitet er zur Wintersonnenwende mit seinem Gefolge, der Wilden Jagd, hoch zu Ross durch die Wolken. Überall, wo das Gemisch aus rotem Blut und weißem Geifer seines Pferdes auf die Erde tropft, sprießen neun Monate später, zur Zeit der Tagundnachtgleiche, Fliegenpilze (Amanita muscaria) aus dem Boden. Wenn nun der Mensch diese Pilze verzehrt, versetzen ihn die darin enthaltenen halluzinogenen Stoffe in einen Rausch, in dem er mit Wotan kommunizieren kann.
Die Wotan-Sage weist auch eine interessante Parallele zum Weihnachtsmann auf, dessen Schlitten von acht fliegenden Rentieren durch die Lüfte gezogen wird: Man weiß, dass sich Rentiere an Fliegenpilzen berauschen und im Schnee nach deren Überresten scharren. Die nordsibirischen Schamanen setzten voraus, dass die Tiere ebenso wie sie selbst nach dem Verzehr von Fliegenpilzen fliegen können. Die Rentiernomaden im Norden Kamtschatkas konsumieren Fliegenpilze vor allem, wenn sie mit den Seelen ihrer Ahnen in Verbindung treten wollen, zur Divination oder zur Krankenheilung.
Und noch eine Parallele zum Weihnachtsmann gibt es: Farbe und Form von Santas Mütze ähneln auffallend jenen des Fliegenpilzhutes. Der Weihnachtsmann könnte also ein anthropomorpher Fliegenpilz sein, den schon Homer als "Verbindung von Himmel und Erde" bezeichnete.
Ob er nun göttliche Gaben bringt oder hoch fliegende Träume: Möge der Fliegenpilz 2005 mit Glück erfüllen! (mth, DER STANDARD, Print, 31.12.2004/1./2.1.2005)