Sicher, auch in anderen europäischen Ländern erregen ähnliche Affären Aufsehen. Wenn etwa in Deutschland Guido Westerwelle angegriffen wird oder ein arbeitsloser Lehrer den Bundeskanzler ohrfeigt, wird - kurz - über die Sicherheit von Politikern diskutiert. Es gibt Festnahmen, Verurteilungen, und damit basta. In Italien dagegen wähnen sich höchste Verantwortungsträger in einer Staatskrise und demonstrieren so das offensichtliche Abhandenkommen jeglicher Maßstäbe.
Diskurs
"Das Attentat"
Statt sich der innenpolitischen Krise zu widmen, diskutiert Rom lieber über den Angriff auf Premier Berlusconi - Ein Kommentar von Christoph Prantner
Nach dreieinhalb Jahren ununterbrochenen Staunens können selbst abgebrühte Beobachter der Zustände in Berlusconistan Steigerungsstufen politischen Irrwitzes erleben. Der Stativangriff eines kurzfristig in Rage geratenen Maurers aus Mantua auf den italienischen Ministerpräsidenten hat Reaktionen ausgelöst, die selbst in einem an politischer Theatralik und Geschwätzigkeit nicht eben unterversorgten Land eine neue Dimension eröffnen: Silvio Berlusconis Anwälte verteidigen diesmal die Justiz. Die Lega Nord ist der Ansicht, dass die Freilassung des aus Padanien stammenden Angreifers ein Missbrauch justizieller Macht sei. Und die bedauernswert harmlose linke Opposition hat das Glück, Vorwürfe dementieren zu können, die ihr die Verantwortung für ein angebliches Klima der Gewalt im Land zuschreiben. Noch Fragen?
Luca Cordero di Montezemolo hat unlängst davon gesprochen, dass sich Italien in der größten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befinde. Der Mann muss es wissen. Er ist schließlich Chef des Fiat-Konzerns und der Industriellenvereinigung. Italiens Politiker haben diese Feststellung nicht einmal ansatzweise wahrgenommen. Rom diskutiert stattdessen beherzt "das Attentat". Da kann man den Italienern nur wünschen: der Lega ihre Sorgen und dem Berlusconi sein Geld. (DER STANDARD, Printausgabe, 4.1.2005)