Dorf einer indigenen Ethnie auf den Nikobaren vor Eintreffen der Flutwelle. Anthropologen vermuten, dass zumindest die Hälfte der indigenen Bevölkerung ums Leben gekommen ist. Einzelne Gruppen könnten so stark dezimiert worden sein, dass sie angesichts der nun befürchteten Seuchen auszusterben drohen.

Foto: Standard/Singh
Neben der unfassbaren Zahl an Toten und dem unabsehbaren Ausmaß der Zerstörung könnte der Tsunami nun auch zu einer anthropologischen Katastrophe führen: Einige indigene Ethnien auf den von der Flutwelle stark betroffenen Inselgruppen im Indischen Ozean drohen auszusterben. Nicht zuletzt deshalb, weil ihnen nicht geholfen werde, berichten Überlebende. Um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen und vor allem aus Protest gegen die angeblich einseitigen Hilfsaktionen der indischen Regierung hätten einige Nikobaresen einem Bericht des britischen Guardian zufolge Sonntag kurzfristig sogar den indischen Verwaltungsdirektor und den Polizeichef auf den Nikobaren in Geiselhaft genommen.

Die Nikobaren gehören mit den Andamanen seit 1947 zu Indien. Zwischen 1778 und 1785 waren die Nikobaren österreichische Kolonie, anschließend fielen sie an Großbritannien. Die Inselgruppe im Golf von Bengalen hat eine Fläche von gut 1800 Quadratkilometern und etwa 42.000 Einwohnern. Nur zwölf der 22 unter Schutz gestellten Inseln sind bewohnt - zum Großteil von sieben indigenen Gruppen, deren Population durch Kolonialismus und in jüngerer Zeit Tourismus bereits stark dezimiert wurde. Drei der Ethnien leben seit Jahrtausenden völlig zurückgezogen: Die Sentinelesen (vor der Flut waren es geschätzte 120 Menschen) jagen mit Pfeil und Bogen, Eindringlinge werden bis heute auf diese Weise bekämpft, eine Kontaktaufnahme ist kaum möglich. Die Shompen (vor der Flut geschätzte 250 Menschen) kennen bis heute nicht den Feuergebrauch. Und die Zahl der Großen Andamanesen wurde vor der Katastrophe auf nur 40 geschätzt. Wie viele von diesen überlebt haben, wisse man nicht, sagt der indische Anthropologe Simron Jit Singh, der für das in Wien ansässige Institut für Soziale Ökologie der Uni Klagenfurt seit fünf Jahren die Inseln beforscht.

Indische Siedler gerettet

Anders verhalte es sich mit den kontaktfreudigen Nikobaresen, die vor der Flutwelle 30.000 Mitglieder zählten. Die Hälfte von ihnen sei wahrscheinlich umgekommen, befürchtet Singh, der erst am Wochenende aus dem Krisengebiet nach Wien zurückkam. Die Überlebenden seien, wie aus dokumentierten Befragungen hervorgeht, in einer dramatischen Situation.

Laut diesen hätten die Behörden tagelang nach der Katastrophe ausnahmslos indische Siedler, die teils illegal auf den Inseln Handel betrieben hätten, ausgeflogen und in Flüchtlingscamps untergebracht. Der Hilfe suchenden indigenen Bevölkerung aber sei der Zutritt zu Rettungsschiffen verwehrt worden. Dies sei heute noch so. Auch Nahrung und Trinkwasser fehle. Und mangels trockenen Brennholzes könnten laut Singh derzeit die tausenden Leichen nicht verbrannt werden. Neben der davon ausgehenden Seuchengefahr "machen sich die Krokodile über die Toten her und sind so aggressiv, dass sich die Bevölkerung nicht mehr in Küstennähe traut". Und auch der von Touristen 2002 eingeschleppte Erreger der Cholera habe auf den Inseln überlebt und drohe angesichts der verheerenden Verhältnisse nun erneut zu einer tödlichen Epidemie zu werden. (Der Standard, Printausgabe, 04.01.2005)