Auf der Suche nach den Anforderungen einer Theologie der Erdbeben: Wo bleiben die Voltaires, Kants und Rousseaus des 21. Jahrhunderts? – Anrisse einer Debatte jenseits der Empörungsflut über Mediengeilheit, Behördenversagen und Spendenranking.

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Notwendige Fragen an einen Gläubigen: Aus einem Kommentar von "Guardian"-Kolumnist Martin Kettle:

Das moderne Zeitalter hält sich zugute, dass der Mensch von heute nahezu alles weiß und alles erklären kann. Aber ein Ereignis wie das Erdbeben in Indonesien entlarvt, dass das weitgehend Hybris ist. Vielleicht haben wir schon so viel über die Bedrohungen des Planeten durch die Zivilisation geredet, dass wir vergessen haben, über welch ungezügelte Kräfte der Planet verfügt, die Zivilisation zu zerstören. Das gegenwärtige Ausmaß des Leidens macht jedenfalls deutlich, dass wir über derartige Gefahren viel mehr mit unseren Vorfahren verbunden sind, als wir das bisher wahrhaben wollten. Ein paar Tage nach der 9/11-Attacke in New York war ich mit einem Kollegen abendessen. Und da wir beide noch so nah am Ereignis waren, gab es kein anderes Gesprächsthema. An einem Punkt des Gesprächs fragte ich meinen Gast, wie er als Katholik erklärt, dass es zu so einer schrecklichen Tat kommen kann. Die Antwort ist einfach erwiderte er, wir alle sind Sünder und unser Leben ist ein Jammertal.

Also werde es immer Menschen geben, die andere Menschen töten. Der Anschlag von New York sei daher nicht als Manifestation des Willens einer höheren Gewalt sondern menschlicher Abgründe zu interpretieren. Um dann nach einer Pause hinzuzufügen: "Aber ich gebe zu, mit Erbeben habe ich etwas größere Probleme." Erdbeben sind mit dem Glauben an einen gerechten Gott tatsächlich kaum auf einen Nenner zu bringen. Trotzdem kann es sich keine Religion der Welt leisten, dieser Frage auszuweichen. Und bei einem Beben dieser Dimension stellt sich diese Herausforderung umso dramatischer.

Schlussendlich kann man alles auf die eine große Frage reduzieren: Warum ist es geschehen? Und wir sehen uns vor die Wahl gestellt: Entweder gibt es dafür einen ganz natürliche Erklärung – oder da ist noch etwas anderes.

Dabei stellt schon Variante eins unsere Vorstellungskraft auf eine ziemlich harte Probe, sie ist aber zumindest in sich schlüssig: Der Tsunami hat sich ereignet, sagen die Seismologen, weil eine Erdplattenverschiebung in den Tiefen des Ozeans heftige Beben ausgelöst hat. Dabei wurden gewaltige Energien freigesetzt, die sich über tausende Kilometer fortgepflanzt und schließlich in einem gewaltigen Zerstörungsschub an den Küsten von Somalia bis Indonesien entladen haben.

Was aber haben Vertreter von Weltanschauungen, die Seismologen nicht als unwiderlegbare Autoritäten anerkennen, dazu zu sagen? Zum Beispiel jene, die an die biblische Schöpfungsgeschichte glauben? Und solche Weltanschauungen sind auch heute noch viel weiter verbreitet als eine säkularisierte Gesellschaft wie die unsere das nahe legen würde.

Über weite Strecken der Geschichte haben die Menschen Erdbeben als Interventionen eines zürnenden Gottes zu erklären versucht. Selbst als die Kirchen um sie herum bereits zusammenkrachten, bestanden die Priester Lissabons beim Erdbeben 1755 darauf, Kruzifixe und religiöse Ikonen zu retten, um damit eine Katastrophe abzuwenden, die schließlich 50.000 ihrer Mitbürger das Leben kostete.

Andere haben daraus ganz andere Schlüsse gezogen. Voltaire fragte: Was für eine Art von Gott kann solche Dinge zulassen? Waren die Bürger Lissabons wirklich so so viel lasterhafter die in London oder Paris, dass die Stadt eine derart grausame Bestrafung verdient hätte? Kant war so außer sich über das, was in Lissabon geschah, dass er drei eigene Traktate über das Problem von Erdbeben verfasste. Unsere heutige Gesellschaft scheint da etwas zurückhaltender zu zu sein.

Trotz allem: Es ist kaum ein Ereignis im modernen Zeitalter denkbar, das die Überzeugungskraft der Religion mehr herausfordern würde als dieses Erdbeben. Voltaires Frage aus dem 18. Jahrhundert – Warum, Lissabon? – sollte eine ganze Serie von ähnlichen Fragen in allen Religionen dieser Welt auslösen. Mit Sicherheit nämlich haben die gigantischen Wellen, die das Beben erzeugten, keinen Unterschied gemacht, welcher Religion ihre Opfer angehören. Hindus wurden in Indien weggespült, Muslime in Indonesien, Buddhisten in Thailand und die Christen und Juden unter den Urlaubern erhielten auch keine spezielle Behandlung.

Für die wissenschaftliche Glaubensgemeinde ist das kein Problem. Hier war eine seelenlose Kraft am Werk, sagen sie, die Muslime und Hindus gleichermaßen zerstörte. In nichtwissenschaftlichen Glaubenssystem, insbesondere solchen, die an eine göttliche Ordnung glauben, gibt es allerdings einigen Erklärungsbedarf. Was für ein Gott ist das, der Erdbeben zulässt?

Warum trifft es gerade diese Länder und Völker und nicht andere? Was für eine Art von Ordnung ist das, die bestimmt, dass jemand, der in irgendeinem Küstendorf am Weihnachtsabend schlafen geht, am nächsten Morgen in reißenden Fluten aufwacht und um sein Leben kämpfen muss? Von Aristoteles an haben vernünftige Menschen immer wieder versucht, Erdbeben eine Art von Sinn abzuringen. Erdbeben haben nicht nur eine tödliche Zerstörungskraft. Sie fordern die Menschheit auch heraus, Erklärungsmodelle für solch eklatante Ungerechtigkeiten zu finden.

Die Intellektuellen im Europa des 18. Jahrhunderts hatten die Wissbegierde und Unabhängigkeit, solche Fragen zu stellen und auch zu beantworten. Können wir das auch vom Europa des 21._Jahrhunderts behaupten. Oder sind wir jetzt zu eingeschüchtert, um die Existenz eines Gottes, der solche Dinge tut, zumindest in Frage zu stellen?

Antworten eines Theologen: Der griechisch-orthodoxe US-Theologe David B. Hart gibt im "Wall Street Journal" allen Fragenden, Zweifelnden und Zürnenden unter anderem dieses zu bedenken:

Als Christ kann ich mir nicht vorstellen, dass es auf die Frage nach dem Bösen für einen Nichtgläubigen eine befriedigende Antwort gibt. Ich kann nur feststellen, dass Voltaires Version dieser Frage bei all ihrer Dringlichkeit nicht wirklich "theologischer" Natur ist. Der Gott in Voltaires berühmtem Poem entspricht der Vorstellung von einem deistischen Gott, der die Welt wie sie jetzt ist, exakt nach seinen Vorstellungen geschaffen und gestaltet hat und der, über allen Möglichkeiten thronend, streng darauf achtet dass Glück und Tugendhaftigkeit stets in ausgewogenem Verhältnis stehen. Es mag zwar Christen geben, die solche Vorstellungen verbreitet haben. Aber das ist nicht der christliche Gott.

Das christliche Verständnis des Bösen war immer schon wesentlich radikaler und fantastischer als jenes der Theodizee. Denn es distanziert sich von der Vorstellung, dass das Leiden, der Tod und das Böse irgendeinen letzten Sinn hätten. Möglicherweise ist für Nicht- Christen keine Lehre unerträglicher als die Botschaft, dass wir in der langen, dunklen Nachzeit einer Urkatastrophe leben, dass die kosmische Zeit nur ein Schatten der wirklichen Zeit ist und das Universum ein Gefangener von Mächten und "Fürstentümern" – spirituellen wie weltlichen – die Gott wesensfremd sind.

Im Johannes-Evangelium tritt der Mensch gewordene Gott in eine Welt, die einmal die seine war und ihm nun feindlich gegenübersteht: "Er war in der Welt und die Welt war von ihm gemacht und die Welt kannte ihn nicht". Und sein Erscheinen in diesem Kosmos ist beides: ein Akt der Bestrafung und der Erlösung. Dem Evangelium ist zwar die Überzeugung eingeschrieben, dass der Sieg über Tod und Teufel bereits errungen sei, zugleich aber steht dieser Sieg erst bevor.

Und bis dahin leben wir in einem schmalen Streifen zwischen Licht und Dunkelheit, wissend, dass uns einzig die Barmherzigkeit hilft, das "Schicksal" zu tragen, und dass das so bleiben wird bis ans Ende der Tage. (DER STANDARD; Printausgabe, 5./6.1.2005)