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Meteoritenkrater und Flutwellen: Frank Schätzings Werk untersucht geologische Zusammenhänge.

Foto: Archiv
Die Welle kommt in Frank Schätzings Roman Der Schwarm auf Seite 405. Sie trägt den Namen, den ihr die japanischen Fischer gegeben hatten: Tsunami. Doch sie schlägt in Nordeuropa ein, zuerst auf den Färöer-Inseln, dann in Schottland, schließlich in Norwegen. Am schlimmsten erwischt es die Stadt Stavanger. Hier ertrinken die Menschen nicht, sie werden erschlagen.

Mehr als 400.000 Käufer hat Der Schwarm bisher gefunden, und alle, die das Buch auch gelesen haben, kannten dieses Wort schon vor der Flut im Indischen Ozean: Tsunami. Frank Schätzing ist der Prophet. Er hat die Naturkatastrophe vorausgesagt. Nach ihrem Eintreten ist Frank Schätzing nun auch der Interpret. Er erklärt der deutschsprachigen Öffentlichkeit die Ereignisse, und er ist umso erfolgreicher damit, als er die Tatsachen durch einen moralischen Filter liest und aus den geologischen Zusammenhängen eine Geschichte des menschlichen Fehlverhaltens macht.

"Wir haben versagt!", unter diesem Titel rechnete Schätzing in der Zeit mit dem Tourismus ab, der den Tsunami nicht ausgelöst, sondern - zum Teil - abgekriegt hat. "Wir wiegen uns in einer falschen Sicherheit", proklamierte er im Interview mit dem Spiegel. In einer Fernsehtalkshow mit Reinhold Beckmann bekam er das Resultat seiner Äußerungen zu hören: "Naturkatastrophe ist ja schon fast das falsche Wort", rang der Moderator nach einem Begriff, der das anthropologische Primat wiederherstellen konnte.

Die Boulevardzeitungen fragten heuchlerisch: "Wo ist Gott?" Die aufgeklärten Zeitgenossen aber fragen verzweifelt: "Wo ist der Mensch?" Sie ertragen es schwer, dass es ein Ereignis ohne Verschulden gibt, eine Katastrophe, in der die Menschen nur Opfer sind, nicht aber Täter.

Schätzing ist der Prophet dieser Position, auch wenn er in den Talkshows vorsichtig formuliert, und in erster Linie für ein Frühwarnsystem eintritt. Er füllt doch eine Leere, die das Beben in der globalen Sinnindustrie hinterlassen hat. Er spricht so, wie er in seinem Buch erzählt: gut informiert, geduldig in der Argumentation, maßlos aber in den Implikationen. Der Schwarm handelt im Prinzip davon, dass das Meer ein Bewusstsein bekommt. Es lässt sich die Misshandlung durch den Menschen - die Überfischung, die Vergiftung, die Ausbeutung - nicht länger gefallen. Die Tiere der See reagieren aggressiv, und bald reagiert die See selbst aggressiv.

Es ist ein "Independence Day mit anderen Mitteln", wie es an einer Stelle im Buch heißt. Schätzings Naturphilosophie ist entsprechend apokalyptisch: Der Mensch ist die Spezies, an der die Erde leidet. Katastrophen wie im Paläozän sind nun hausgemacht, aber waren sie es nicht auch schon damals - nur eben ohne den Menschen. Eine Erde ohne Krone der Schöpfung wäre eine Erde ohne Zeugen, und es wäre natürlich auch das Ende einer Zivilisationskritik, wie Schätzing sie vertritt.

Schätzing schreibt spannend, und er hat so genau recherchiert, dass nun ein junger Tourist in Sri Lanka, der das Buch gelesen hatte, den Tsunami rechtzeitig erkannt hat und seine Mutter und den kleinen Bruder tatsächlich in Sicherheit bringen konnte.

Es sind diese Rückkopplungseffekte zwischen Fiktion und Realität, die von den Medien in der Zeit der Krise hergestellt - und auch gesucht werden. Durch die Hintertür kehrt damit aber auch der Sinn in die Erzählung zurück, es ist fast immer der Sinn einer Strafpredigt: "Rache des Meeres", steht dann zu lesen, oder auch das alte Wort "Sintflut", dessen religiöser Rest dem Ereignis eine Aura des Vorzeitlichen gibt.

Frank Schätzing, dessen Zeitrechnung die "Pausen zwischen den Katastrophen" sind, erhob sich als Erster, als es darum ging, aus einer Naturkatastrophe ein Kulturereignis zu machen. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 08./09.01.2005)