Ähnlich wie der 11. September 2001 unser Gefühl für Hochhäuser verändert hat, wird sich nach dem Tsunami unser Verhältnis zum Meer auf eine sehr allgemeine und sehr tiefe Weise wandeln. Denn Katastrophen solchen Ausmaßes schreiben sich ins kollektive Unterbewusstsein der Menschheit vor allem ikonografisch ein.

So sind es ganz bestimmte Bilder, die als Schreckensbilder bleiben werden, was aber zugleich bedeutet, dass ihre Schönheit dauerhaft beschädigt ist. Man kann eben keine alte Aufnahme des New Yorker World Trade Centers ohne ein gewisses Schaudern ansehen, ja man kann nicht einmal irgendeinen Wolkenkratzer auf der Welt betreten, ohne zumindest den Gedanken an die zerstörten Zwillingstürme abweisen zu müssen. Man wird also künftig jeden Meeresstrand, nicht nur in Südasien, etwas anders sehen. Ausgerechnet jenes Panorama, das wir in den anthropologischen Tiefenschichten unseres Empfindens mit Ruhe, Schönheit und Erhabenheit verbinden, ausgerechnet der Blick auf die See, eines der Parademotive aller Malerei, ist vom Grauen affiziert.

Das ganze traditionsreiche Ensemble aus harmonischer Küstenlinie, sanftem Gestade, bewegtem Wellenspiel und der herrlichen Sichtbarkeit der Ferne, dieses Bild, das die Urlauber nicht nur als Bild suchen und buchen, sondern als Glückserlebnis, als euphorische Lebensform – all das ist gewissermaßen imagologisch verseucht von verwesenden Leichen in unerträglicher Zahl. Immer wenn wir künftig irgendwo einen Strand erblicken, werden sich vor unserem geistigen Auge die Todeswelle, die Toten und die tapferen Totengräber mit ihrem scheußlichen Mundschutz hinzugesellen.

Das Würgende dieser Erinnerung wird uns gerade in Landschaften und Szenerien anfallen, die zu den lieblichsten auf der Erde gehören. Andere werden vielleicht im Scherz bei jeder großen Welle "Tsunami!" rufen, und überhaupt wird dieser Begriff eine globale Karriere machen wie sonst nur Marken- oder Eigennamen. Die Sprachspiele mit Tsunami wollen wir uns erst gar nicht vorstellen. So wie bisher einzelne Küsten gelegentlich vom ausgelaufenen Öl beschädigter Tankschiffe verseucht worden sind, so ist nun, da wir auch – fast beiläufig – erfahren haben, dass Tsunamis überall auftreten können, das Bild der Küste an sich kontaminiert.

Das Erschrecken hierüber steckt noch unkenntlich in dem allgemeinen Erschrecken über Tod und Leid. Aber wenn die Toten begraben sind, dann werden wir auch einen ästhetischen Verlust betrauern müssen, die Zerstörung von etwas Absolutem, einer Vorstellung von Schönheit. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.1.2005)