Lissabon am 1. November 1755 gegen 9.45 Uhr fing der Boden zu schwanken an, ein unterirdisches Grollen war zu vernehmen. Kurz darauf gab es einen etwa zwei Minuten dauernden fürchterlichen Erdstoß, der vor allem im Zentrum Lissabons zahlreiche Paläste, Häuser, Kirchen und Klöster zum Einsturz brachte und Menschen und Tiere begrub.
Ein weiterer gleich starker Erdstoß ließ noch verschonte Gebäude einstürzen, aus den Schuttmassen aufsteigender Staub verdichtete sich zu einer grauen Wolke, die stundenlang die Sonne verdunkelte. Herdfeuer und die in Kirchen umgeworfenen Kerzen setzten Trümmer in Brand, das Feuer tobte tagelang in Lissabon. Vernichtet wurden auch Warenbestände.
Drei Tsunami-Wellen
Die Bewohner, die sich an das Ufer des Tejo zu retten versuchten, wurden von drei aufeinander folgenden Tsunami-Wellen überrascht, die vom Atlantik durch die Tejo-Mündungsbucht hereinrasten, einen Großteil der niedrig gelegenen Stadtteile überspülten, Schiffe an Land warfen und in den Tejo zurückrissen. Die Gesamtzahl der Todesopfer in dem damals etwa 275.000 Einwohner zählenden Lissabon betrug etwa 60.000. Es kam zu zahlreichen Plünderungen, auch durch Besatzungen fremder Schiffe, die sich im Hafen aufhielten.
Vollkommen zerstört wurde der Königspalast nahe dem Tejo-Ufer mit seiner Bibliothek von etwa 70.000 Bänden. Dabei wurden zahlreiche Dokumente vernichtet, aus denen hervorgegangen sein dürfte, dass die Portugiesen womöglich vor Kolumbus Land in der westlichen Hemisphäre - also den amerikanischen Doppelkontinent - entdeckt haben. Vernichtet wurde die Carmen-Kirche (Igreja do Carmen) am Osthang des Chiado-Hügels (sie wurde nicht wiederaufgebaut - die Zerstörungen sind heute noch zu sehen).
Von der schon bei einem früheren Erdbeben 1344 schwer beschädigten, dann aber restaurierten Patriarchatskirche, der Se, wurden Apsis und Vierungskuppel zerstört (heute in einfacher Form wiederhergestellt). Schwer im Mitleidenschaft gezogen wurde auch das Kastell. König Jose (Josef) I. weilte zum Zeitpunkt des Bebens mit seiner Familie in dem westlich von Lissabon gelegenen Belem und entging so der Katastrophe.
Über dreißig Nachbeben zählte man. Die zahlreichen in die nähere Umgebung der Stadt geflüchteten Obdachlosen wurden in Zelten und Holzhütten untergebracht, erst nach Monaten gab es bessere Unterkünfte. Viele der tiefgläubigen Menschen hatten Angst, ohne Beichte und Absolution zu sterben. Das führte bei den in Lissabon weilenden ausländischen Protestanten zu Besorgnis. Es kam es vor, dass einige von ihnen katholische Taufzeremonien über sich ergehen lassen mussten.
Weltbeben
Moderne Seismologen bewerten die Katastrophe von 1755 als Weltbeben. Die Auswirkungen waren nicht nur in weiten Teilen Portugals und Spaniens, sondern bis nach Afrika zu spüren. Schwere Schäden wurden aus den marokkanischen Städten Rabat und Fez gemeldet. In Portugal selbst gab es in 140 Städten und Orten Verwüstungen. In dem damals österreichischen Mailand bebte die Erde, Fensterscheiben barsten. In vielen Teichen, Seen und Kanälen Europas, vor allem in Schottland und der Schweiz, kam es zu "Seichen" - plötzlichem, in einigen Fällen mehrmaligem Ansteigen des Wasserspiegels und seine Rückkehr zum normalen Stand.
Tsunamis rasten über den ganzen Atlantik und richteten Schäden im Bereich der Azoren, Madeiras, in der Karibik, an den Küsten Spaniens, Frankreichs, Englands, Irlands, Hollands, ja sogar bis nach Skandinavien hinauf an. Erst nach Tagen erfuhr die Welt vom Schicksal Lissabons und konnte die rätselhaften Phänomene zu einem Gesamtbild vereinen.
Revidierte Weltbilder
Dichter, Geistliche, Agnostiker und Völkerrechtler revidierten ihre philosophischen Systeme. Viele dachten wie die Katholische Kirche, die das Beben als göttliche Strafe für die Süden ansah. Im ersten Schock gelobte der französische König Ludwig XV., seine Maitresse, die berühmte Marquise de Pompadour, davonzujagen. Viele fragten sich, ob das fromme katholische Lissabon sündiger als zum Beispiel Paris gewesen wäre. Bald kamen aber Zweifel an dieser Haltung auf, als sich herausstellte, dass in der Stadt zwar Kirchen und Klöster zerstört wurden, die Bordellstraße aber unversehrt blieb.
Unter den Gelehrten fand die Theorie vom göttlichen Strafgericht nur wenige Verteidiger. Im Zeitalter der Aufklärung war es unmöglich, die riesigen Zerstörungen dem Wirken eines liebenden Gottes zuzuschreiben. Das seinerzeit neueste wissenschaftliche Erklärungsmodell sah die Ursache in unterirdischen Erdbewegungen.
Nach dem Beben von Lissabon war die Stunde des Premierministers von König Jose I., Sebastiao Jose des Carvalho e Melho, Marques de Pombal, gekommen. Pombal, unter anderem Gesandter seines Landes in Wien (1745-50) gewesen, war vom König zum Außenminister und persönlichen Berater ernannt worden. Unmittelbar nach dem Erdbeben eilte er zum Regenten. Auf dessen Frage, was er nach der Katastrophe zu tun gedenke, soll Pombal die historisch nicht verbürgten, aber im ganzen Land berühmt gewordenen Worte gesprochen haben: "Sepultar os mortos, cuidar os vivos, fechar os portos" (Die Toten begraben, die Lebenden versorgen, die Häfen schließen").
Pombal nutzte Gunst der Stunde
Die Rettungsarbeiten zog Pombal mit eiserner Strenge durch. Am wichtigsten waren die Wiederherstellung der Ordnung, die Versorgung mit Lebensmitteln und die Beseitigung der Toten, um den Ausbruch von Seuchen zu verhindern. Er war entschlossen, ein neues Lissabon zu erbauen und die Katastrophe dazu zu benutzen, um Portugals Handel und Gewerbe von der erdrückenden Vorherrschaft der Engländer und Deutschen zu befreien.
Zunächst ließ Pombal alle Truppen zu mobilisieren, um arbeitsfähige Männer in die Stadt zurückzutreiben. Die Leichen wurden in der offenen See versenkt. Pombal hob die Zollgebühren am Hafen auf und sorgte für eine gerechte Rationierung aller verfügbaren Nahrungsmittel. Zur Unterbringung der Obdachlosen ließ er Zelte und Holzhütten errichten. Auch die königliche Familie war neun Monate lang in einigen großen Zelten in Belem untergebracht.