Reisen nach Afrika
Nach Harar auf Windsohlen
Während der Rimbaud-Wettbewerb des Standard in die Endrunde geht, hat sich Autor Andreas Altmann auf Arthur Rimbauds Spuren in Äthiopien geheftet und seinen "Sommer in der Hölle" nachvollzogen
Kurz vor dem Anflug auf die Hauptstadt reicht mir die Stewardess
ein loses Blatt. Informationen für die Crew über den jeweiligen Bestimmungsort. Ich lese und lache, da steht: "Addis Abeba ist kein Einkaufsparadies." Der absurde Satz liest sich wie eine Warnung. Wie auch der Hinweis, dass die Benutzung der Taxis nicht zu empfehlen sei, "da keine Insassenversicherung vorliegt."
Die Sorgen des Weißen Mannes in einem Land, das lange ums nackte Überleben kämpfte. Kein Einkaufsparadies - gibt es ein blöderes Wort? - und keine Insassenversicherung. Kurz zuvor lief im Bordkino "Shopping in London": Wo feine Stoffe kaufen? Wann rechtzeitig einen Butler ordern? Man traut sich. Ich will nicht shoppen, brauche augenblicklich keinen Diener, ich will nach Harar, der Stadt im Osten Äthiopiens. Dort hat Arthur Rimbaud vor über 100 Jahren gelebt.
Von den zwei Eisenbahnlinien des Landes ist eine übrig. Die brauchbaren 800 Kilometer führen von der Hauptstadt bis an die Küste von Djibouti. Um vier Uhr nachmittags bin ich am Bahnhof, und um 20.11 Uhr setzt sich der Zug ruckartig in Bewegung. Die Toiletten stinken, der Boden ist dreckig, die Waggons überfüllt.
Wie unwichtig. Vor einer Stunde war der Himmel noch violett, nun scheint der Vollmond. Und draußen vor dem offenen Fenster liegt Afrika. Eine sekundenlange Freude durchströmt mich. Weil nichts fehlt, weil nichts anders sein soll. Ich treffe Key Bahr, einen der diensthabenden Wachposten. Er heißt, meint er grinsend, wie das Rote Meer. Und das Rote Meer ist bereits blau, er schwankt leicht, führt mich zum Biermann und lädt mich ein. Er sagt den schönen Satz: "Wenn du ein Problem hast, gib es mir."
Key Bahr wird mir etwas beibringen, was schwer verständlich ist in einem Land, in dem alttestamentarische Krüppelfiguren am Strassenrand liegen und ihre Elendsjeremiade vor sich her wimmern: Er wird eine Großzügigkeit beweisen, die ich nicht besitze. Wir gehen auf Patrouille. Ich muss mit. Hält der Zug, rennt Key Bahr ans Ende des letzten Waggons. Dort hängt meistens ein Schwarzfahrer. Ein Fußtritt befördert ihn auf die Gleise. Bei Widerstand fuchtelt er eindrucksvoll mit seiner Browning. Einmal treten wir aus, der Zug fährt los, wir rennen nach und springen auf. Aber die Türen lassen sich nicht öffnen, weil dahinter Menschenmassen und Gepäcktonnen liegen. Ein Warnschuss bringt Bewegung in den Haufen.
Nach 14 Stunden und 520 Kilometer hält der Zug in Dire Dawa.
Ich steige aus. Um die Jahrhundertwende war das Wüstenkaff ein Camp für französische Schienenbauer. Am nächsten Morgen will ich nach Harar. Kein Bus, da kein Benzin. Ich schließe mich einer Karawane an, die die Stadt verlässt. Es sind Somalis, einer der 80 Stämme des Landes. Die Treiber tragen jeder ein Bambusrohr und eine Teekanne, über deren Schnabel die Tasse hängt. Hinter der Polizeisperre am Rande von Dire Dawa trennen wir uns. Sie ziehen landeinwärts, ich gehe zurück zur Straße.
Privatautos gibt es kaum, aber Laster. Ich winke. Zehn Minuten später sitze ich im Führerhaus eines Sattelschleppers. Fahrer Negeshi und ich haben nicht einen einzigen gemeinsamen Buchstaben, nicht einmal "yes", nicht einmal "no". Aber Harar versteht er und mein fragendes Gesicht. Ich bin dabei. Kurz nach Mittag kommen wir an. Als ich den Vorplatz eines kleinen Hotels überquere, registriere ich wieder dieses starke Glücksgefühl, das ich in Europa nicht kenne. Kein Glück für irgendein Verdienst, nur das augenblickliche Glück, am Leben zu sein. Früher war die Stadt Schauplatz für die Todfeindschaft zwischen Christen und Moslems. Kein "Ungläubiger" durfte sie betreten. Als der englische Offizier Richard F. Burton sich 1855 verkleidet einschleicht, wird er entdeckt und entgeht nur um Fußbreite dem sofortigen Tod. Eine Generation später, im Dezember 1880, kommt Rimbaud nach einem dreiwöchigen Ritt durch die somalische Wüste hier an.
Die Ägypter herrschen gerade, die Lage hat sich entspannt. Der Franzose ist jetzt 26 Jahre alt. Als er nach Harar zog, um für einen wohlhabenden Geschäftsmann ein Handelsdepot für Kaffee, Gummi, Elfenbein und Moschus aufzubauen, lag ein in seiner Intensität und Maßlosigkeit beispielloses Leben hinter ihm. "L'homme aux semelles de vent", den Mann mit den Windsohlen, nannte ihn sein Freund Paul Verlaine. Arthur wandert zu Fuß über die Alpen, geht nach Schweden zum Zirkus, arbeitet auf einer Plantage in Alexandria, plündert vor Suez gestrandete Schiffe, verpflichtet sich als Söldner bei der holländischen Armee, wird Aufseher über einen Steinbruch in Zypern, sucht in den Häfen des Roten Meers nach Arbeit.
In der katholischen Mission treffe ich Père Emile. Er hat es nicht
leicht. Sein schmales Kirchlein gegen 99 Moscheen. Aber es gibt keinen Ärger. Emile ist ein halber Heiliger und die Moslems erkennen sein fürsorgliches Herz. Der alte Franzose, obwohl geistig Lichtjahre von seinem Landsmann entfernt, ist ein Rimbaud-Fan.
Was er zusammengetragen hat, lässt vermuten, dass dem Dichter auf dieser Welt nicht zu helfen war. Zu gierig sein Verlangen, zu wütend sein wütendes Herz, zu einsam seine unbeugsamen Sehnsüchte. Der Missionar führt mich herum, auch in den "Salon". Hier hat Rimbaud gesessen, seine Gespräche mit den damaligen Missionsleitern sind verbürgt. Das ist naiv, aber es ist ein überwältigendes Gefühl, in der "Nähe" eines Menschen zu sein, der ein so einzigartiges Leben geführt hat.
Ich weiß noch, wie ich vor Jahren nicht weit von Tunis das Hotel "Dar Zarrouk" fand, in dem André Gide oft gewohnt und gearbeitet hatte. Ich ging an die Rezeption und fragte, ob ich das Zimmer von ihm sehen könne. Der Mann blätterte im Gästebuch und sagte: "Tut mir leid, aber Monsieur Gide ist nicht da. Ein Freund von Ihnen?" Und ohne zu zögern log ich voller Stolz: "Ja, er ist ein Freund von mir."
Die Altstadt Harars hat ihre Magie nicht verloren. Knapp 50.000 Menschen leben auf knapp 50 Hektar. Es ist eng, schief, vielleicht 1000 Jahre alt. Jeden Tag ziehen Kamelkarawanen durch die Tore. Zwei Dutzend Koranschulen gibt es am "viertheiligsten" Ort des Islams. Im Hinterhof sitzen Kinder und schreiben die eingebleuten Suren. Der Kabir, der Lehrer, überwacht entspannt den Unterricht, liegt auf einer Decke, raucht, kaut Chat, trinkt Tee. Das Gejohle stört ihn nicht.
"Einst, wenn ich daran denke, war mein Leben ein Fest", so schrieb Rimbaud am Anfang seiner "Une saison en enfer". Und drei Sätze weiter heißt es: "Ich fand sie bald bitter und stieß sie wieder fort." Sie, das ist die Göttin der Schönheit.
Der Dichter hat das Leben nicht ausgehalten. Nicht einmal, wenn es schön war. Auch in Harar kann er sein loderndes Herz nicht besänftigen. Ihn ekelt. Es widert ihn an, alles: Seine armselige Existenz als Kaffeekrämer. Sein mühseligster Versuch, ins Waffengeschäft einzusteigen. Die nie realisierte Idee, als Sklavenhändler das große Geld zu machen. Und: die Nähe von Menschen, die Nähe einer Frau. "Ein Glück", schreibt er aus dieser Zeit an seine Mutter, "dass es nur dies eine Leben gibt und wir dessen ganz sicher sein können, denn es ist unmöglich, sich ein anders vorzustellen." Wer nicht leben will, muss sterben.
Bis zum Frühjahr 1891 wohnt er in der Stadt. Dann schwillt sein rechtes Knie, Fieber kommt, ein satanischer Schmerz schwärt durch den Körper. Vor Jahren hat ein ägyptischer Arzt seine Syphilis behandelt. Jetzt sind die Ägypter vertrieben, die medizinische Hilfe nicht mehr verfügbar. Rimbaud verkauft alles, beschließt, nach Frankreich zurückzukehren. Auf einer Bahre tragen sie ihn die 300 Kilometer zum Roten Meer. Bevor sie die Küste erreichen, reißt ein Sturm die Karawane auseinander. Die Kamele laufen davon, die Verpflegung verschwindet. Sein "Sommer in der Hölle" wird höllische Wirklichkeit.
Zwischenstation im Krankenhaus von Aden, er verweigert die
Amputation. Krebs kriecht durch seinen abgezehrten Leib, man bringt ihn auf einen Dampfer nach Marseille. Am 10. November stirbt er, drei Wochen nach seinem 37. Geburtstag. Wer seine Gedichte gelesen hat, ahnt vielleicht, weshalb er als "poète maudit", als verfluchter Dichter, in die Literaturgeschichte einging. Der Halbwüchsige schrieb mit dem Presslufthammer. Wie von Sinnen bohrt er nach Visionen, die ihn schließlich überwältigten. Ein unheilbarer Schreibekel infizierte ihn kurz darauf. Alles, was er hinterher noch aufschrieb, waren wehleidige Briefe an seine Familie und platte Reiseberichte für die französische "Société de Géographie". Kein Zauber lag mehr in seiner Sprache. Mit 19 Jahren war er uralt, leer, verbrannt, wurde still wie ein toter Vulkan. Keine Zeile dichtete er mehr. Warum? Bis heute gibt es darauf keine Antwort.
Andreas Altmann lebt derzeit in Paris, studierte einst Psychologie und Jus; nach Berufen wie Hausmeister, Anlageberater, Dressman, Parkwächter etc. Ausbildung zum Schauspieler; Engagements in München und am Wiener Schauspielhaus; dazwischen längere Aufenthalte in einem indischen Ashram, einem buddhistischen Zenkloster in Kioto, ausgedehnte Reisen durch Asien, Afrika, Südamerika; seit 1987 als Reporter tätig, u.a. für Zeit-Magazin, SZ-Magazin, Stern, Merian, Focus, Tempo, Abenteuer & Reisen.
1992 erhält er den Egon-Erwin-Kisch-Preis für die im FAZ-Magazin veröffentlichte Reportage "Leben am Rande der Welt - Äthiopien ganz nah". Publikationen: "Weit weg vom Rest der Welt", Rowohlt 1996 (siehe rechte Seite unten); "Im Land der Freien - mit dem Greyhound durch Amerika", Rowohlt 1999.
© DER STANDARD, 17. März 2000
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