Francisco Mackenna hat vielleicht den schönsten Arbeitsplatz der Welt. Aus seiner halbverglasten Führerkabine blickt er in eine schillernde Hafenbucht: Valparaíso, paradiesisches Tal, mit knapp 400.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt von Chile. Seit 22 Jahren arbeitet er als Kapitän einer jener 15 Schrägaufzüge, die Valparaísos Unterstadt mit den Hügeln verbinden. Der Porteño hat es sich 50 Meter über dem Meeresspiegel richtig gemütlich gemacht - Fernseher, Heiligenbilder und ein Kühlschrank voll von Bilz und Pap, den klassischen chilenischen Erfrischungsgetränken ("Bebidas de Fantasia"). An seiner Seite lebt ein schmutzigweißes Huhn - es wirft gerade einen Spiegel um. "Hätte ein anderer das Huhn gefunden, dann . . ." Er zieht seine Handfläche waagrecht von einem Ohr zum anderen. Die Holzwände zieren Farbdrucke von "Valpo", wie er seine Stadt liebevoll nennt. Alle vier Minuten stemmt sich Francisco Mackenna mit seinem ganzen Gewicht auf die Gummipedale - Bremse und Zweitbremse. Auf den Impuls hin ruckeln zwei quergestreifte Würfel auf Stelzen gemächlich über ihre ölig-schwarzen Schienen. "Einige Kollegen machen sich einen Spaß daraus, möglichst ruppig anzufahren, um die Touristen zu verschrecken", grinst er und schiebt die Flasche mit dem uringelben Pap herüber, das erfahrungsgemäß wie der üble Nachgeschmack des knallroten Bilz schmeckt: "Wollen Sie einen Schluck?" Die weltweit einzigartigen Ascensores (Kapazität: zwischen sieben und 15 Personen pro Kabine) entstanden allesamt zwischen 1883 und 1915. Sie tragen die poetischen Namen der Hügel, die sie befahren: Barón, Lecheros, Larrain, Polanco (der einzige senkrechte Lift), Monjas, Mariposas, Florida, Espíritu Santo, Reina Victoria, Concepción, El Peral, San Agustín, Cordillera, Artillería und Villaseca. Seit ihrer kollektiven Erhebung zum Weltkulturerbe ist Mackennas Job quasi einzementiert: Die eigensinnigen Aufstiegshilfen sollen bis in alle Ewigkeit händisch bedient werden. 15 weitere Ascensores sind im Lauf der Zeit verschwunden, einige kleben noch als traurige Ruinen in den verwilderten Trassen. "Schmerzliche Geschichten", sinniert Mackenna, "der Ascensor La Cruz etwa gab seinen Geist wegen Vernachlässigung auf - die Anrainer haben einfach jahrzehntelang ihren Müll über die Schienen gestreut." Ascensores sind billig und sicher: 100 Pesos (2,80 Schilling) kostet die Fahrt, in über 100 Jahren gab es keinen nennenswerten Unfall. Beachtlich, denn die Holz- und Metallkisten knirschen und stöhnen wie hundertjährige Kniescheiben. Ursprünglich wurden sie mit Hilfe von Wasser betrieben. Die Talkabine zog mit ihrem Gewicht die Bergkabine am Drahtseil nach oben. War die Talkabine nicht ausreichend besetzt, stellte man einfach Wassertanks zwischen die Passagiere - den Rest erledigte die Schwerkraft. Später kamen die Dampfmaschinen, seit 1906 werden Elektromotoren eingesetzt, die heute 20.000 Menschen täglich auf die Hügel hieven. Francisco Mackenna auf seinem Hochsitz erzählt Legenden: "Zum Beispiel der Ascensor Mariposas. In den Siebzigerjahren soll dort einmal pro Jahr ein Bauer mit seinem Vicuña" - in Chile der seidig-vornehme Bruder von Lama und Guanako - "eingestiegen sein. Die beiden besuchten ihre Verwandten am Cerro. Dort hinten ist der Ascensor Espíritu Santo, mit dem Pablo Neruda zu seinem Haus La Sebastiana gelangte. Und sehen Sie den Betonklotz?" Das 1990 erbaute triumphbogenartige Parlamentsgebäude hockt wie eine sprungbereite Kröte vor dem Hafen. "Pinochet wollte das unbequeme Parlament nicht mehr in der Hauptstadt haben." Mackenna atmet tief durch. "Wissen Sie, das hier ist nicht mein Traumjob. Ursprünglich wollte ich studieren. Daraus wurde nichts." 1973, nach dem Sturz von Salvador Allende, verlor er seine Arbeit als Hilfsschreibkraft in einem Ministerium der Metropole Santiago. Bald ging er in seine Heimatstadt Valparaíso zurück, die auch die Heimatstadt von Allende und Pinochet ist. Ein Lächeln huscht über sein eben noch schattiges Gesicht: "Trotz des niedrigen Gehalts, trotz des kalten Winters: Inzwischen mag ich den Beruf." Die 33-jährige Anwältin Elena Quintana Oyarzo wohnt auf dem Cerro Concepción, der mit seinen very british anmutenden Häusern wie dem entzückenden Hotel Brighton an Südengland erinnert. Täglich fährt sie mit dem Ascensor Concepción in die Unterstadt. Dieser älteste Schrägaufzug von 1883 zählt mit einer Neigung von 45,50 zu den steilsten. Es schaukelt bedenklich. "Nein, Angst haben wir keine", bekräftigt Quintana, "es ist, als ob man in ein Taxi steigt. Angst hatte ich nur einmal, 1984, in einem kleinen Dorf. Vor dem Eingang zu einer Villa stand eine Menge Uniformierter. Ich und mein Freund warfen einen Blick über den Zaun. Da stand er: General Augusto Pinochet. Das Blut gefror uns in den Adern. Aber wissen Sie was? Der Tyrann, der tausende Tote auf dem Gewissen hat, war in diesem Moment nichts als ein alter, rotgesichtiger Onkel, der uns anlächelte!" Elena Quintanas Entscheidung, in Europa Jus zu studieren, hängt wie die vieler ihrer Kollegen mit der Diktatur zusammen: perfekte Kenntnis des Rechtssystems als einziger Weg, sich in einem rigiden Staat zurechtzufinden. "Bürgerrechte und Pressefreiheit sind teilweise immer noch eingeschränkt. Pinochet wird ,General in Rente' oder ,Senator auf Lebenszeit' genannt - nie Diktator. Viele sind jetzt enttäuscht und wütend. Aber irgendwie ist seine Rückkehr nicht schlecht. Zumindest wird der Staat gezwungen, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen." Ein letztes Rumpeln, dann hat der Ascensor Concepción die Talstation erreicht. Die spröden Schiebetüren öffnen sich. Wir setzen das Gespräch in einer der zahlreichen Imbissstuben fort, bei einem Hot Dog mit Mayo und Palta, dem typisch chilenischen Avocadoaufstrich. Der Kellner preist seine Erfrischungsgetränke an. "Wollen Sie ein Pap?" - "Nein danke, lieber ein Bilz." Linda Stift, Martin Amanshauser Von Linda Stift erschien zuletzt "Weihnachten für Fortgeschrittene", Deuticke 1999, von Martin Amanshauser zuletzt "in der todesstunde von alfons alfred schmidt", Deuticke 2000; wöchentliche Internetkolumne unter: www.deuticke.at © DER STANDARD, 17. März 2000 Automatically processed by COMLAB NewsBench