Wien - Wir nennen sie Lena. Sie ist 16 Jahre alt, klein, blond und sonnig. Sie hat die Schule gut hinter sich gebracht, ist vif, quirlig, umgänglich, geht gern in die Disco, hat viele Freunde.

Tagsüber arbeitet sie als Verkäuferin bei "Mann", einer Filiale der Bäckerei. Es ist ihr erster Job, sie ist die Jüngste, sie muss die niedrigen Dienste erledigen. Das stört sie nicht. Die Kolleginnen sind okay. Alle mögen "die Kleine". Sie ist tüchtig. Die Dienstzeit vergeht wie im Flug.

Sperrstunde

Dann kommt der Juliabend. Halb acht, Sperrstunde. Außer ihr ist nur noch Gorica da. Die ist knapp über 40, eine der Nettesten, hat es nicht leicht, ist hoch verschuldet. Was die verdient, gibt ihr Mann dreimal aus.

Die Mündung einer Pistole

Lena muss noch den Mist hinaustragen. Komisch, Gorica will es diesmal selbst tun. Lena ruft inzwischen ihre SMS ab. Plötzlich Lärm. Jemand packt sie von hinten, fesselt ihre Hände mit einem Kabel, zieht ihr einen Strumpf übers Gesicht, zerrt sie in den Waschraum. Sie hört Gorica schreien. Sie selbst muss sich hinknien, wird an ein Abflussrohr gebunden. Sie spürt ein kühles Stechen im Hinterkopf. Das muss die Mündung einer Pistole sein. Sie denkt: Das war es, man wird sie erschießen, ihr Leben ist vorbei. Sie denkt es eine Minute. Wenn man es eine Minute denkt, denkt man es für immer.

Das hätte ihr Lena nie zugetraut

Eineinhalb Jahre später: Lena kommt als Zeugin zum Prozess. Sie bringt Schwung mit, bemüht sich fröhlich zu sein. Sie schildert die Vorgeschichte zum Überfall, es sprudelt aus ihr heraus. Zwei Männer waren es, das weiß sie inzwischen. Freunde von Gorica. Ja, die Kollegin hatte die Sache eingefädelt. Das hätte ihr Lena nie zugetraut. Der Richter muss weiterfragen. Lena sieht sich knien, dann spürt sie die Mündung am Kopf. Es war eine Gaspistole. Jetzt weint sie so bitter, dass die Geschworenen wegschauen müssen. Gorica schämt sich. Ihre zwei Komplizen blicken ins Leere. Es tut ihnen Leid. 4000 Euro hatten sie erbeutet. Der Ältere wird zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, der Jüngere kriegt fünf Jahre, Gorica muss wegen Anstiftung zum Raub für vier Jahre ins Gefängnis.

Lena kann nicht mehr wie früher sein. An Arbeit ist nicht zu denken. Zwei Monate wurde sie intensiv behandelt. Viel hat man mit ihr gesprochen. Aber die Nächte werden dadurch nicht heller. Und das Stechen der Mündung verschwindet nicht aus ihrem Kopf. (Daniel Glattauer, DER STANDARD Printausgabe 14.1.2005)