Foto: ORF/Leitner
Die österreichische Politik der Nachkriegszeit war durch Neustrukturierung und Neuverteilung der politischen Macht im Staat nach dem Proporzsystem gekennzeichnet. Es wurden Einflusssphären und -bereiche abgesteckt, die jeweils einer der beiden großen Regierungsparteien ÖVP und SPÖ überantwortet wurden. Die Haltung zum Fernsehen kann dabei rückblickend als ein großes Missverständnis gedeutet werden.

Denn das Potenzial des neuen Mediums Fernsehen wurde zunächst völligverkannt. Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP), der nach den Wahlen vom Mai 1956 auch für Rundfunkfragen verantwortlich war, schien von den Entwicklungsmöglichkeiten des Fernsehens nur wenig überzeugt zu sein, ja er gab den Fernsehversuchen kaum Zukunftschancen. "Wer wird das briefmarkengroße Bild schon anschauen?" ist nur eine seiner berühmt gewordenen Fehleinschätzungen, ein anderes Mal nennt er das neue Medium ein "Kasperltheater". Zudem wurde unter Berufung auf die ökonomische Situation des Landes und angesichts der hohen Preise für Empfangsgeräte und Fernsehgebühren davon ausgegangen, dass Fernsehen nur nicht mehr alsein Exklusivvergnügen für eine verschwindend kleine Schicht werden könnte. Doch von 1959 bis 1967 stieg das Einkommen der Arbeitnehmer jährlich um fast neun Prozent, und die TV-Geräte wurden alsbaldgünstiger.

Politische Botschaften

Als Konsequenz dieser Verkennung der Möglichkeiten, die in einem durchgreifenden Einfluss auf das Fernsehen gelegen wären, überließ die ÖVP die entscheidenden Positionen im Fernsehen überwiegend Vertretern, die der SPÖ nahe standen, und beanspruchte für sich selbst die entsprechenden Positionen im Hörfunk. Der Hörfunk, der vor allem vom NS-Regime durch die Forcierung billiger Empfangsgeräte zum breit genutzten Massenmedium gemacht wurde, schien nach 1945 konservativen Politikern neben den eigenen Parteizeitungen und der "Austria-Wochenschau" im Kino das geeignetere Medium zu sein, um politische Botschaften zu verbreiten. Somit erschien die Kontrolle über den Hörfunk auch reizvoller.

Die Entwicklung freilich war eine andere. Die erste Fernsehsendung des Österreichischen Rundfunks flimmerte am 1. August 1955 über damals nur spärlich vorhandene Bildschirme. Zu Ende des Jahres gab es 1420 angemeldete Fernsehgeräte, Ende 1959 dann schon 112.223. Die Zahl der Menschen vor den Bildschirmen wurde damals noch nicht regelmäßig gemessen, aber sie war ein Vielfaches, da oft gemeinsam gesehen wurde, bei Nachbarn, Freunden, Verwandten und im Gasthaus.

Proporz auf allen Unternehmensebenen

Im Sommer 1961 erhob das Gallup-Institut, dass vor den damals rund 250.000 angemeldeten Flimmerkisten eine Million Österreicher täglich oder zumindest sechsmal pro Woche saßen, weitere 900.000 schauten mindestens ein- bis fünfmal die Woche fern. Ende 1967 ergab die erste umfassende ORF-Publikumsbefragung, dass zwischen 19.45 und 21.30 Uhr durchschnittlich ein Drittel der Bevölkerung vor dem TV-Gerät saß, die Zeit im Bild sahen schon damals rund 1,2 Millionen. Die Politik reagierte. Hatte bereits der sozialdemokratische Ver 3. Spalte kehrsminister Karl Waldbrunner, dem der Rundfunk bis 1956 unterstellt war, damit begonnen, Führungspositionen im Unternehmen doppelt zu besetzen und somit Vertretern der anderen Partei jeweils einen eigenen Mann beizustellen, wurde diese Tendenz später noch verschärft.

Der vierköpfige Vorstand der im November 1957 gegründeten "Österreichischen Rundfunk Gesellschaft m.b.H." wurde mit je zwei ÖVP- und SPÖ-Vertretern besetzt. Proporz herrschte auf allen Unternehmensebenen. Dadurch musste von den beiden Regierungsparteien in Rundfunkfragen auch Einstimmigkeit demonstriert werden. Entscheidungen waren durch die Doppelbesetzungen ja nur gemeinsam möglich. Tatsächlich gab es aber keine Einstimmigkeit, sondern gegenseitige Kontrolle und Blockaden.

Der Schrit zu viel

1963 schließlich gingen die beiden Parteien jenen Schritt weiter, der der Schritt zu viel werden sollte. Im Zuge der Koalitionsverhandlungen im März 1963 wurde für den Rundfunk eine Abmachung getroffen, nach der Hörfunk und Fernsehen der direkten Kontrolle der Parteisekretariate unterstanden wären. "Kommissare" hätten die Einhaltung des Proporzes, des gleichmäßig verteilten Vorkommens der Parteien im Programm überwachen, die Parteizentrale über Verstöße informieren und gegebenenfalls auch "Konterprogramme" veranlassen sollen.

Im März 1963 machte Hugo Portisch, Chefredakteur der damals auflagenstärksten Tageszeitung Kurier in einem Leitartikel diese Geheimpläne publik und warnte, dass das Ende der Freiheit und sachlichen Arbeit im Rundfunk unmit 4. Spalte telbar bevorstünde. Der Kurier startete einen Unterschriftenaufruf, unter dem Titel "Kurier- Aktion gegen das Rundfunkdiktat". weitere Tageszeitungen schlossen sich der Protestaktion an, und bis zum Ende der Aktion waren 372.725 Unterschriften eingegangen. Diese Aktion führte im Jahr 1964, nachdem die erhobenen Forderungen nicht ausreichend umgesetzt worden waren, zur Einleitung des "Rundfunkvolksbegehrens", einer Gesetzwerdungsinitiative, die von denselben Zeitungen maßgeblich unterstützt wurde.

Volksbegehren

Gestützt von 832.353 Unterzeichnern kam die Vorlage des Volksbegehrens zur Diskussion ins Parlament. Es kam zu einem Bruch der Koalition, und die nächsten Wahlen brachten der ÖVP eine absolute Mehrheit ein. Die ÖVP hatte nämlich angekündigt, im Falle eines Wahlsieges die Forderungen des Volksbegehrens umzusetzen, und wurde somit im Wahlkampf von der beteiligten Presse auch massiv unterstützt.

1966 beschloss das ÖVP-dominierte Parlament ein neues Rundfunkgesetz, das als direkte Folge des Rundfunkvolksbegehrens gesehen werden kann und dessen wesentliche Forderungen erfüllte. Es trat mit Jahresbeginn 1967 in Kraft, und der ORF war damit unter dem Generalintendanten Gerd Bacher auch im europäischen Vergleich – vorübergehend – mit einer beachtlichen Unabhängigkeit und Autonomie gegenüber der Politik ausgestattet. (DER STANDARD; Album, Printausgabe, 15./16.1.2005)