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Alice kann sich verdoppeln und ist in der Choreografie von Georgio Madia an der Wiener Volksoper ein Girlie mit Bubikopfperücke.

Foto: APA / BARBARA GINDL
Demnächst werden die Ballettkompanien von Volksoper und Staatsoper zusammengelegt: Zum Abschied zeigt Choreograf und Volksopernballettchef Giorgio Madia "Alice" und lässt das Orchester dazu die Musik des Filmkomponisten Nino Rota zelebrieren.


Wien - Die Bühne ist ohnehin schon ein Wunderland. Genauso wie das Kino, das Konzert, ein Bild oder ein Buch. Lewis Carrolls Klassiker Alice im Wunderland aus dem Jahr 1865 fällt eine besondere Funktion zu. Dieses Buch enthält in gewissem Sinn einen Zugangskode zu künstlerischen Parallelwelten.

Der Großdenker des Surrealismus, André Bréton, schrieb im Hinblick auf Carrolls Werk: "Im Absurden vermag der Geist einen Ausweg aus allen beliebigen Schwierigkeiten zu finden." Giorgio Madia, Ballettchef der Wiener Volksoper, hatte die großartige Idee, den Alice-Stoff zum Thema eines Balletts zu machen. Und zwar zur Musik von Nino Rota, der die unvergesslichen Melodien zu vielen Filmen von Federico Fellini komponierte.

Madias Alice tritt - eine unabsichtliche Parallele - in derselben Schulmädchenuniform auf wie vor zehn Jahren Mia Kirshner als Christina in Atom Egoyans Film Exotica: Kniestrümpfe, Schottenmuster-Mini, weiße Bluse und Krawatte. In dem Ballett ist Alice kein kleines Mädchen mehr, sondern ein sexy Girlie mit Bubikopfperücke.

Anders als Egoyans Christina bleiben Madias Alice die finsteren Gefilde des Missbrauchs erspart. Aber ein dunkler Unterton schwingt in dem Ballett dennoch mit. Statt an einem Glas Orangenmarmelade wie bei Carroll schwebt Alice hier an einer Flasche Prozac (ein Antidepressivum) vorbei. Und im Wunderland wartet ein schwarz gekleideter Zirkusdirektor auf sie, eine Figur, die der Choreograf erfunden hat.

Dieser seltsame Dämon verkörpert den Regisseur des Absurden, er füllt eine Leerstelle bei Carroll, der seine Leser ja durchwegs darüber im Unklaren lässt, wer die tückischen Tischchen deckt, von denen Alice immer wieder nascht. Giorgio Madia überrascht sein Publikum mit einigen wirklich geglückten Szenen. Das Ass darunter ist die Begegnung der beiden Lakaien (ausgezeichnet darin: Walid Abdel und Patrik Hullman) an der Tür des Hauses der Herzogin.

Drinnen und draußen

Das Überbringen und Annehmen einer Einladung zum Kartenspiel artet zu einem pantomimischen Glanzstück über die Verwechselbarkeit von "drinnen" und "draußen", die Verwandlung einer Tür in einen Spiegel und die fatalen Folgen höfischer Affektiertheit aus. Jacques Tati hätte diese Szene nicht besser inszeniert. Einige gravierende Schwachstellen in dem Ballett jedoch relativieren das Vergnügen. Zu Alices Begegnung mit der Cheshirekatze ist Madia absurderweise nichts eingefallen. Die Zeitmetapher beim Fünfuhrtee - Alice ist zu Gast beim Hutmacher und dem Märzhasen - fällt unter den Tisch. Und in seiner Anspielung auf das berühmte Tanzkapitel bei Carroll, der "Hummerquadrille", bleibt er äußerst flach.

Auch bei der sagenhaften Verhandlung im Gerichtssaal der Herzkönigin hat der Choreograf kein gutes Blatt. Das ist ein bisschen schade. Vielleicht ist ein so anspruchsvolles Projekt in einer Institution wie der Volksoper auch gar nicht zu realisieren: viel zu wenig Probenzeit, wechselnde und am Tanz nicht sonderlich interessierte Direktionen, die jeweils neue Verantwortliche fürs Ballett suchten. Und nun die Zusammenlegung der Ballettkompanien von Volksoper und Staatsoper. Das brachte und bringt Verunsicherung und wirkt als Würgeschlinge für choreografisches Arbeiten.

Unter diesen Bedingungen ist Giorgio Madia immerhin ein Achtungserfolg beschieden. Seinen Tänzern und der Drehbühne des Hauses gelingen zuweilen zauberhafte Momente. Und immer wieder tanzt Fellini mit, als musikalischer Geist von Madia oft zum Gespenst abgekanzelt. Nino Rotas Musik wäre unter anderen Bedingungen wirklich das Öl für das Laufwerk dieses Stücks gewesen. Bei Lewis Carroll seufzt der Hutmacher: "Ich habe dir ja gesagt, Butter ist für das Uhrwerk nichts." Der Märzhase erwidert sanft: "Es war aber echte Tafelbutter." Farewell, Volksopernballett! (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.1.2005)