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Oft in den Medien thematisiert: Die (angebliche) Magersucht Sven Hannawalds

Foto: Reuters/Pfaffenbach

Mit Talent und hartem Training allein können im Spitzensport kaum noch neue Weltrekorde aufgestellt werden. Um als Leistungssportler überhaupt eine Chance zu haben, müssen auch die Technik, die Ausrüstung und der eigene Körper laufend optimiert werden. Dass etwa beim Skispringen und -fliegen in den vergangenen Jahren immer wieder neue Bestleistungen erzielt werden konnten, hängt nicht zuletzt mit dem immer niedrigeren Körpergewicht der Springer zusammen. "War vor etwa 30 Jahren noch die Sprungkraft die entscheidende Größe für die Wettkampfleistung, spielen durch die geänderte Ausrüstung und den neuen Flugstil mittlerweile die aerodynamischen Kräfte - also Luftwiderstand und Auftrieb - die zentrale Rolle", erklärt der Grazer Biophysiker Wolfram Müller.

Damit hat auch das Körpergewicht der Sportler immer mehr an Bedeutung gewonnen. Mit den breiteren Skiern stehen dem Springer sozusagen größere Flügel zur Verfügung, die ihn umso weiter tragen, je leichter er ist. "Wenn wir bei der Computersimulation den Parameter Körpermasse um ein Kilo verringern, springt der Athlet um einen Meter weiter", verdeutlicht Wolfram Müller den enormen Vorteil durch eingespartes Körpergewicht. Überdies können sich sehr leichte Athleten (kleine und dünne) während des Fluges weiter nach vorne lehnen und damit eine aerodynamisch günstigere Position einnehmen, was zusätzlich zu einer Erhöhung der Sprungweiten führt.

Die logische Folge dieser Entwicklung war ein wachsendes Untergewichtsproblem bei den Springern. Um dieses in den Griff zu bekommen, hat Wolfram Müller bereits Mitte der 1990er-Jahre im renommierten britischen Wissenschaftsmagazin Nature angeregt, in die Berechnung der erlaubten Skilänge das Körpergewicht des Springers mit einzubeziehen. Eine Überlegung, die auch bei den zuständigen Institutionen auf großes Interesse stieß, denn in der Folge wurde der sportbegeisterte Forscher vom Internationalen Skiverband (FIS) sowie vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) beauftragt, die wissenschaftliche Basis für eine entsprechende Regeländerung zu liefern.

Ein wesentlicher Teil dieses Vorhabens bestand in anthropometrischen Messungen der subkutanen Fettverteilung, des Körpergewichts, der Größe und weiterer Dimensionen des Körpers. Dazu wurden vom Forscherteam um Wolfram Müller die Daten fast aller Weltklasseskispringer erhoben und mit den Werten von Kontrollgruppen aus anderen Sportarten verglichen. Die Ergebnisse der bislang umfassendsten Untersuchungen auf diesem Gebiet, die auch vom österreichischen Wissenschaftsfonds gefördert wurden, waren alles andere als beruhigend: Das Körpergewicht der Skispringer hatte sich seit den 1970er-Jahren im Mittel um mehr als zehn Kilogramm verringert, 22 Prozent der bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City teilnehmenden Springer waren - nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO - untergewichtig.

Die Fakten waren eindeutig, wie aber sollte man mit diesem Problem umgehen, ohne die Athleten mit restriktiven neuen Regeln wegen Untergewicht zu disqualifizieren? "Mein Vorschlag war, die Skilänge nicht wie bisher von der Körpergröße des Springers allein abhängig zu machen (146 Prozent der Körpergröße ergeben die erlaubte Länge der Skier), sondern auch von seiner Körpermasse", erklärt Biophysiker Wolfram Müller. Dass dieser Vorschlag schließlich von der FIS tatsächlich aufgegriffen und auch prompt in ein neues Reglement umgesetzt wurde, ist ein enormer Erfolg für den Grazer Forscher: "Seit dem vergangenen Frühjahr gilt beim Skispringen die neue Regel, dass das Maß für relatives Körpergewicht den Wert 20 nicht unterschreiten darf, wenn der Springer mit der maximalen Skilänge antreten will."

Das am weitesten verbreitete Maß für die relative Körpermasse ist der so genannte Body Mass Index (BMI), der sich aus der Körpermasse geteilt durch die Körpergröße zum Quadrat ergibt. Da das Körpergewicht der Sportler aus praktischen Gründen mit Sprunganzug und Sprungschuhen ermittelt wird, entspricht der festgelegte Minimalwert von 20 einem konventionellen BMI von rund 18,8. "Damit ist gewährleistet, dass alle Athleten, die mit der vollen Skilänge antreten, über der WHO-Untergewichtsgrenze von 18,5 liegen", freut sich Wolfram Müller.

Und wie reagieren die Skispringer auf die neue Regelung? "Mittlerweile springen so gut wie alle mit voller Skilänge", sagt der Forscher. "Zwar könnten auch jene mitspringen, die nach WHO-Kriterien untergewichtig sind, doch der Vorteil, den ihr extrem niedriges Gewicht bringt, wird ihnen durch die kürzeren Skier wieder genommen." Nur wenn ein untergewichtiger Athlet unerlaubt lange Ski wählt, wird er disqualifiziert. Die neue Regelung bewirkt damit nicht nur eine nachhaltige gesundheitliche Verbesserung für die Athleten, sondern erlaubt ihnen auch, länger in ihrer Disziplin aktiv zu sein. Denn Skispringer mussten sich bislang auch deshalb so früh aus dem Wettkampfgeschehen zurückziehen, weil es ab einem gewissen Alter kaum noch möglich ist, ein derart niedriges Gewicht zu halten.

Ein Nebenresultat der Studien ist ein neues, präziseres Maß für das relative Körpergewicht. Der traditionell dafür eingesetzte Body Mass Index hat den Nachteil, dass er wichtige anthropometrische Daten nicht berücksichtigt. "Da aber gerade die Beinlänge bei der Errechnung des relativen Körpergewichts sehr wichtig ist, habe ich den BMI mit einem entsprechenden Korrekturfaktor versehen", erklärt Müller. "Aus diesem Ansatz habe ich ein neues Maß entwickelt, das ich den Mass Index (MI) nenne." Die Formel dafür ist jener für den BMI sehr ähnlich und durch einen glücklichen Zufall auch recht einfach: So erhält man den MI, indem man die Körpermasse (in Kilogramm) mit 0,28 multipliziert und dann durch die Sitzgröße (Höhe von der Sitzauflage bis zum obersten Punkt des Kopfes) dividiert. Der MI von Personen mit einer mittleren Beinlänge ist mit deren BMI identisch. "Bei langen Beinen dagegen", erklärt Müller, "ist der MI größer als der BMI, da diese Menschen ein geringeres Körpervolumen haben, wodurch sich ihr relatives Körpergewicht bei gegebener Körpermasse erhöht."

Im Sport könnte diese neue Formel noch eine wichtige Rolle spielen: Denn eine Reihe von Athleten, die nach den auf dem BMI basierenden WHO-Kriterien als untergewichtig gelten, wären es auf MI-Basis nicht mehr und vice versa. Das neue Maß eröffnet aber auch für die Medizin - etwa bei der Diagnose von Anorexia nervosa und ähnlichen Essstörungen oder für die Bewertung des Ernährungszustands der Weltbevölkerung - neue Möglichkeiten.

Da es sich die Forscher zum Ziel gesetzt hatten, ein medizinisches Problem - das Untergewicht - mithilfe aerodynamischer Methoden zu lösen, wurden parallel zu den anthropometrischen Messungen in einem eigenen, ebenfalls vom Wissenschaftsfonds geförderten Projekt in Kooperation mit der TU Graz auch zahlreiche aerodynamische Untersuchungen durchgeführt. Wie das gemacht wurde? "In Salt Lake City beispielsweise hatten wir an strategisch wichtigen Positionen am Schanzenhang 14 Mitarbeiter mit zeitsynchronisierten Kameras aufgestellt", erklärt Müller. "Auf diese Weise haben wir die genauen Flugwinkel der Springer vom Absprung bis zur Landung erhalten." Die so gewonnenen Informationen haben die Wissenschafter schließlich im Windkanal, wo mit einer Sechskomponentenwaage die Widerstands-und Auftriebskräfte gemessen werden, zur richtigen Positionierung der Springer eingesetzt.

Das aus den zahlreichen Untersuchungen und Analysen gewonnene Wissen hat die Grazer Forscher zu international gefragten Know-how-Lieferanten in Sachen Skispringen gemacht, die ihre Top-Position wahrscheinlich noch länger halten werden: "Bisher", sagt Wolfram Müller, "gibt es weltweit keine andere Forschergruppe, die das Skispringen mit einer vergleichbaren Gründlichkeit untersucht hat." (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23. 1. 2005)