Bern - Die Neutralität der Schweiz angesichts des Grauens des Holocaust war ein Verbrechen, genauso wie die Täterschaft Österreichs und die Kollaboration in Frankreich. Das sagte Israel Singer, Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, am Dienstag in Berlin. Die Äusserung Singers an der zentralen deutschen Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau wurde in der Schweiz mit Empörung aufgenommen.

Reaktionen

Während die Schweizer Regierung die jüngste Kritik von Israel Singer, dem Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses (WJC), an der schweizerischen Neutralität während des Holocaust nicht kommentieren will, äußerte am Mittwoch der Schweizer Historiker Jean-Francois Bergier Unverständnis über die Aussagen des WJC-Funktionärs. "Diese Äußerungen scheinen mir eine Entgleisung zu sein", sagte der ehemalige Präsident der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg in der Sendung "Rendez-vous am Mittag" des Schweizer Radiosenders DRS.

Singer hatte an der zentralen deutschen Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am Dienstag in Berlin erklärt, die Neutralität der Schweiz angesichts des Holocausts sei ein Verbrechen gewesen, genauso wie die Mittäterschaft Österreichs oder die Kollaboration in Frankreich.

"Einzige Überlebenschance"

Bergier, dessen Kommission die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersucht hatte, zeigte sich erstaunt über die Äußerungen Singers. Er wisse nicht, warum Singer dies so formuliert habe. Singer wisse, dass nach Einschätzung der Kommission die Neutralität in der schwierigen Situation des Zweiten Weltkriegs die einzige Überlebenschance der Schweiz gewesen sei. Wenn schon, dann müsste man Verletzungen der Neutralität durch die Schweiz kritisieren. Die Aussage Singers dürfe so nicht im Raum stehen bleiben. Die offizielle Schweiz oder der Schweizerische Israelitische Gemeindebund sollten sie richtig stellen, riet Bergier.

Bundesregierung schweigt

Weder die Bundesregierung noch das Außenministerium in Bern wollten indes Stellung beziehen. Vizekanzler und Regierungssprecher Achille Casanova erklärte am Mittwoch vor Medienvertretern, die Schweizer Bundesregierung kommentiere Äußerungen von Privatpersonen nicht, umso weniger als die Fakten bekannt seien.

Bereits am Dienstagabend hatten die Präsidenten der Außenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat, der Sozialdemokrat Erwin Jutzet und der Freisinnige Peter Briner, in der "DRS-Tagesschau" den Vorwurf Singers als "für die Schweiz nicht akzeptabel" bezeichnet. Es seien schließlich nicht die Schweizer gewesen, die Menschen in die Konzentrationslager geschickt hätten.

Auch beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) fand man Singers Kritik verfehlt. SIG-Präsident Alfred Donath, der am Mittwoch zu den Gedenkfeiern nach Auschwitz reiste, zeigte sich gegenüber der Nachrichtenagentur sda irritiert über Singers Äußerungen. Die Schweizer Juden unterstützten die Aussagen Singers in keiner Weise, unterstrich SIG-Sprecher Thomas Lyssy.

Man dürfe nicht aktive Kollaboration mit Neutralität vergleichen. Von Singer sei man pointierte Aussagen gewöhnt. Unklar bleibe, welche Motive er für seine jüngste Kritik an der Schweiz gehabt habe. Klar sei für den SIG dagegen, dass "die Schweiz ihre Geschichte, auch die dunklen Seiten, in exemplarischer Weise aufarbeitet hat". Man habe sich beim SIG auch überlegt, ob die Singer-Aussagen eine Retourkutsche für die Haltung des SIG in der Kontroverse um das Finanzgebaren des WJC darstelle. Aber darüber zu spekulieren, sei müßig, sagte Lyssy. Dieser Konflikt müsse im internen Gespräch geklärt werden. (APA/sda)