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Foto: APA/EPA/Jack Mikrut
STANDARD: Herr Boff, im Jahr 2001 ist das Weltsozialforum als Kontrapunkt zum Weltwirtschaftsforum entstanden. Wenn wir uns heute die Welt ansehen: Hat Davos nicht klar die Oberhand über Porto Alegre gewonnen? Boff: Die Frage ist doch, wo liegt denn die Hoffnung? Alle spüren, dass wir auf einem Irrweg sind, weil wir überhaupt keinen Sozialvertrag mehr haben. Es gibt nur noch die militärische, wirtschaftliche und ideologische Hegemonie der Vereinigten Staaten, die mit Gewalt aufrechterhalten wird. Das System kann sich nicht mehr mit Argumenten durchsetzen.

Niemand kennt die Alternativen. Aber hier in Porto Alegre entsteht allmählich eine Weltzivilgesellschaft mit dem Bewusstsein, dass wir nicht zufrieden sind mit der Lage der Welt, dass wir uns werden ändern müssen.

Die Vernetzung aller möglichen Bewegungen führt zu einer Art Akkumulation von Energie, von Utopie. Allmählich kommen wir zu Konvergenzen, die politischen Druck bedeuten können.

STANDARD: Ja, aber was kommt konkret dabei heraus?

Boff: In der Wasserfrage etwa zeichnet sich schon ein gewisser Konsens ab. Wir sollten einen globalen sozialen Vertrag über das Süßwasser fordern, und die Option gegen den Krieg. Als Menschheit stehen wir an einem Scheideweg. Solche Reflexionen und Utopien wie in Porto Alegre sind der Humus, in dem die Dinge gären. In Davos geht es um materielle Werte, hier geht es um spirituelle, menschliche, ethische Werte. Ideal wäre, wenn beide zusammenkämen, mit dem Ziel einer ganzheitlichen Vision der Menschheit.

STANDARD: Heuer gibt es auf dem Forum erstmals einen eigenen Themenbereich "Spiritualität". Wie wichtig ist die ethische Dimension für die Weltbürgerbewegung?

Boff: Aus dem spirituellen Kapital der Religionen müssen Impulse für eine menschlichere Gesellschaft gegeben werden. Wir wollen ja nicht nur eine soziale, sondern auch eine menschliche Veränderung mit ethischen Werten. Die Religionen sind dazu da, um diese Dimensionen zu erarbeiten und zu vertiefen.

STANDARD: Der Vatikan hat Sie ausgegrenzt, später haben Sie Ihr Priesteramt aufgegeben. Fühlen Sie sich manchmal unverstanden oder einsam?

Boff: Nein. Rom hätte es sicher gerne gesehen, wenn ich Coca-Cola-Manager in Rio geworden wäre. Aber ich konnte weiter als Theologe arbeiten und wurde dabei auch von den meisten Bischöfen unterstützt. Also sehe ich mich nicht als Opfer, und ich empfinde auch keine Rachegefühle oder Enttäuschung.

Das autoritäre System Kirche ist dazu verdammt, andere zu verdammen. Das gehört zu seiner Logik. Sobald man das einmal verstanden hat, fühlt man sich befreit. (DER STANDARD, Printausgabe, 29./30.01.2005)