Peter Kampits
Langsam nehmen die Möglichkeiten und Erfolge der Medizin tatsächlich nahezu unheimliche Dimensionen an: Transplantation von Händen, Erbgut-Schecks an Embryonen in der Präimplantationsdiagnostik, klonierte Schweine als Ersatzteillager für menschliche Organe - das Wunderland Medizin überrascht nahezu täglich mit neuen Erfolgsmeldungen.
Zeitgleich mit dem medizinischen Leistungsangebot explodieren aber auch die Kosten des Gesundheitswesens und die Rute von Selbstbehalten: Regulierung oder gar Rationalisierung der erhofften Leistungen wird immer öfters ins Fenster gestellt.
Wird die Medizin und ihr Leistungsangebot tatsächlich zu einem gigantischen Supermarkt, mit allen dazugehörigen Marktstrukturen von Angebot und Nachfrage, von Billigprodukten und exklusiven Sonderabteilungen für Zahlungskräftige? Bereits anlässlich von Designerpillen à la Viagra und Xenocal brach die sozialethische und sozialpolitische Debatte los: Verheißt uns die Medizin nicht tatsächlich uneingeschränkte Gesundheit, ewige Jugend, Ersatzorgane oder solche aus Kunststoffen bis hin zum Paradox eines gesunden Sterbens - bei der Möglichkeit dies bis zur Grenze der Unsterblichkeit hinauszuzögern?
Exempel Gentechnik
Radikaler als in anderen Bereichen stellen sich diese Fragen in der Genforschung und Gentechnologie. Neben Pflanzen und Nutztieren nach Maß steht offenbar auch die Entwicklung eines Menschen nach Maß bevor, das Human-Genom-Projekt, das sich die totale Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes zum Ziel gesetzt hat, schreitet rascher voran als vermutet. Bremsende Hinweise auf noch lange nicht bewältigte technische Probleme stellen kein ernstzunehmendes Hindernis dar:
Wir sind im Begriff, die Evolution selbst in die Hand zu nehmen, und eröffnen dadurch Dimensionen, die unsere traditionellen moralischen Vorstellungen aufsprengen und verändern: Denn der Schritt zu einem "Menschen nach Maß" ist ein qualitativ neuer und lässt sich nicht mit immer schon gegebenen Veränderungen der Natur und des Menschen, mit Züchtungsverfahren herkömmlicher Art vergleichen.
Die Gentechnik hat bereits Verfahren entwickelt, um außerhalb des Mutterleibs gezeugte Embryos auf Erbschäden zu untersuchen und sie erst bei deren Nichtvorliegen in die Gebärmutter zu implantieren, sonst aber zu vernichten. Gleichsam eine Simulierung eines natürlichen Vorganges, der bei Nichtakzeptanz abgebrochen wird. Was zunächst als humanere Form der Abtreibung erscheinen mag, eröffnet dennoch bedenkliche Perspektiven:
Die Geburt behinderter Kinder würde zu einem Vergehen an der Gesellschaft, das Ideal des gesunden, strahlenden und kraftstrotzenden Menschen, der "valid person" würde verletzt, neben den Designerbabys gerieten alle nicht "designten", sozusagen natürlich Geborenen, ins Hintertreffen.
Sollen wir alles wollen, was wir können? Diese Frage, die so manche Kassandrarufe aus traditionellen moralischen Ecken provoziert hat, lässt sich nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Hinweise auf die Ehrfurcht vor der Natur oder den göttlichen Schöpfungsplan stehen Fortschrittsparolen gegenüber, die Nutzen und Wohltaten für die Menschheit beschwören, Krankheitsvermeidung und Altersverlangsamung prophezeien. Dabei geht es nicht darum, dem Eingreifen in "natürliche" Abläufe die Heiligkeit des Lebens entgegenzuhalten.
Ausloten von Grenzen
Eingreifen in die Natur ist ein Konstruieren des Menschseins. Es geht um die Ausmittlung von Grenzen und um das Wieder-Erfinden eines Maßes für unser Handeln, nicht um einen Menschen nach Maß. Unser wissenschaftliches Können ist unserem moralischen Bewusstsein davongelaufen. Transgene Experimente, Steuerung der Gene und Fortpflanzungsoptionen eröffnen eine Handlungsdimension noch unbekannten Ausmaßes.
Der genetischen Beratung und dem genetischen Screening wird bereits ein Recht auf das Nichtwissen entgegengehalten. Das Szenario des gläsernen Menschen (Datenschutz hin oder her) verheißt Möglichkeiten sozialer Diskriminierung, auch wenn diese per Gesetz noch ausgeschlossen sind. Wo wird jemand Arbeit finden, dem genetisch der Ausbruch von Chorea Hungtinton im vierten Lebensjahrzehnt vorausgesagt ist? Eine umfassende Steuerung der Gesellschaft nach den Regeln einer positiven Eugenik steht ins Haus, der gegenüber Orwells Visionen fast harmlos anmutet. Eine Ethik der Grenzen und der Unterlassung bleibt gefordert. Denn immer noch hat das Prinzip der Vermeidung von Schäden Vorrang vor dem Gebot der Hilfe.
Peter Kampits ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.