Österreichs Gerichte hätten 42 NS-Straftäter nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch zum Tod verurteilt, konnte man vergangenen Samstag im STANDARD lesen. Was ein Irrtum ist. Tatsächlich wurden diese Urteile nach dem am 26. Juni 1945 beschlossenen Kriegsverbrechergesetz verhängt. In einem normalen Land würde man eine solche Fehlinformation dem Urheber ankreiden. Aber Österreich ist kein normales Land. Ihm ist das Kunststück gelungen, seine Vergangenheit so gründlich zu verdrängen, dass seine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gleich mit verdrängt wurde.

Robert Menasse zum Beispiel schrieb im "Land ohne Eigenschaften" über die Beteiligten an der "Mühlviertler Hasenjagd" mit dem Brustton der Überzeugung: "Keiner dieser Menschen wurde nach dem Krieg für diese Morde verurteilt und bestraft." Tatsächlich gab es wegen des Massenmordes an Hunderten aus Mauthausen ausgebrochenen sowjetischen Kriegsgefangenen mindestens eine Verurteilung zu zwanzig und zwei zu zehn Jahren.

Elfriede Jelinek äußerte sich in einem Text im Programmheft zu ihrer Collage "Stecken, Stab und Stangl" nicht weniger apodiktisch über den "SS-Oberführer und Blutordensträger Tobias Portschy, der immer noch im Burgenland unangefochten lebt und sogar Landeshauptmann war". Was wohl nur heißen kann, dass Portschy noch nach '45 Landeshauptmann gewesen sei.

Ein blühender Unsinn. Tatsächlich war Portschy Nazi-Landeshauptmann im Burgenland, solange es die Funktion noch gab, später stellvertretender Gauleiter der Steiermark und wurde am 28. März 1949 zu 15 Jahren verurteilt. Wer solchen Fehlinformationen aufsitzt, kommt natürlich nicht auf die Idee, die Fragen zu stellen, die genau jetzt zu stellen wären. Angesichts des Falles Gross. Jetzt, wo Österreich all das auf den Kopf fällt, was beide Großparteien nach dem Krieg verbrochen haben.

Wie war es möglich, dass Portschy keine zwei Jahre nach seiner Verurteilung wieder ein freier Mann war? Er wurde nämlich am 23. Februar 1951 begnadigt. Was ist das für ein Land, in dem von 1945 bis etwa 1951 über 13.000 NS-Straftäter schuldig gesprochen, 42 zum Tod verurteilt und 30 hingerichtet wurden, in dem 29 Lebenslang bekamen (ebenso wie neun begnadigte zum Tod Verurteilte), 269 weitere zu zehn bis 20 Jahren verurteilt wurden.

Gross und andere

Dass der SPÖ-Justizminister Broda seine schützende Hand über den Psychiater Gross hielt, kann man jetzt überall lesen. Um der Gerechtigkeit willen sei an den viertägigen Prozess gegen den stellvertretenden Wiener Gestapo-Chef Ebner im November 1947 erinnert, in dem der Staatsanwalt zwei Tage lang einen Entlastungszeugen nach dem anderen aufmarschieren ließ, bis der Richter einwarf, er werde in diesem Prozess wohl überhaupt keinen Belastungszeugen hören, worauf der Staatsanwalt am dritten Tag ausgewechselt wurde.

Der Angeklagte hatte als ehemaliger CVer von der Gestapo verhafteten CVern geholfen und vor Kriegsende rechtzeitig die Front gewechselt, so dass er selbst ins KZ kam. Nach der Auswechslung des Staatsanwalts marschierten all jene auf, denen kein CV-Freund bei der Gestapo geholfen hatte.

Es sei auch an den Mann aus erster Wiener Familie erinnert, dessen Prozess gute Freunde bis 1950 verschleppten, als alles längst nicht mehr so heiß gegessen wurde, so dass er mit zwei Jahren davonkam. Er war beim Gestapo-Chef Mildner als Denunziant ein und aus gegangen und hatte sich die Provision für einen Hauskauf erspart, indem er seinen Geschäftsfreund in Mauthausen ermorden ließ.

Beide Großparteien hatten ihre Waschstationen für ehemalige und alles andere als ehemalige Nazis. Die Beziehungsgeflechte wirkten tief in die Justiz hinein. In einem Fall so tief, dass der Vorsitzende vergeblich zu vertuschen suchte, dass er plötzlich ohne Akt im Gerichtssaal saß, weil ihm das Justizministerium diesen kurzfristig weggenommen hatte. Doch trotz allem waren diese über 23.000 Prozesse besser als ihr Ruf. Es gab hoch engagierte Vorsitzende, es gab überzeugende Urteile und das Gegenteil.

Es gab auch den Senat, der einen jüdischen Theaterdirektor wegen unbewiesener Hörensagen-Anschuldigungen, er habe als Kapo in einem Zweiglager von Auschwitz Häftlinge misshandelt, zu drei Jahren verurteilte. Der Theaterdirektor war als Kapo wegen zu großer Milde abgelöst worden. Vor demselben Senat stand im selben Jahr eine Frau, die sich die große, gut gelegene Wohnung eines Schneiders angeeignet hatte, indem sie der Gestapo verriet, dass dessen Frau ihre jüdische Herkunft verheimlichte. Das Gericht ließ die Angeklagte mit einem Jahr davonkommen.

Politisches Minenfeld

Ein verwirrendes Geschehen und überdies ein politisches Minenfeld. Auch hier wohnt der Teufel im Detail. Man müsste zum Beispiel fragen: Warum gab es für Quälerei und Misshandlung sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Menschenwürde in Wien durchschnittlich 2,41 Jahre Strafe, in Linz aber nur 0,8? Warum für Denunziation in Wien 2,48 und in Linz 1,3 Jahre? Das große Verdrängen verhindert jede differenzierte Diskussion.

Doch der eigentliche Skandal ist die Lebenslüge, die Österreich noch auf die Lebenslüge von der Opferrolle draufsetzte. Nach der Nazi-Zählung von 1945 war die große Versöhnung mit den Mitläufern und "Idealisten" (so die damalige Sprachregelung) angesagt. Doch beide Großparteien betonten, für NS-Mörder, Totschläger und Denunzianten werde es keine Milde geben. Wenig später öffneten sie die Gefängnistore für "Idealisten", Mörder und Mitläufer. Damit machten sie die ganze Mühe der um Differenzierung bemühten Richter zunichte.

Was ist, was war das für ein Land, dessen Justiz sich beeilte, einen verurteilten armen Hund noch schnell vor der Aufhebung der Todesstrafe aufzuknüpfen, das aber Mörder und Totschläger umgehend begnadigte? Ende Juli 1954 seien nur noch 17 Verurteilte nach NS-Prozessen in Haft gewesen, schrieb der spätere Bundespräsident Schärf. Nur 17, ein Jahr vor dem Staatsvertrag, neun Jahre nach dem ersten Prozess. Er schrieb es nicht verschämt, sondern brüstete sich der österreichischen Milde. Angesichts dessen, was diesem Land jetzt auf den Kopf fällt, sollte es nur noch einen Schulterschluss geben: den mit der Ehrlichkeit und mit der historischen Wahrheit.
Hellmut Butterweck schrieb Theaterstücke und leitet das Buchressort der "Furche".