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Albert Einstein war zweimal verheiratet, hatte drei Kinder, zwei Stiefkinder und eine unbestimmte Anzahl an Liebschaften. Soweit die dürren Fakten, mit deren Erwähnung im Lebenslauf eines Bürgers aus dem frühen 20. Jahrhundert man sich zufrieden gäbe, handelte es sich nicht um die Biografie des zur Wiederkehr des annus mirabilis 1905 Gefeierten, des Wissenschaftsgenies schlechthin, des "man of the century" (Time Magazine).

So aber sind die genannten Fakten zu viel und ebenso zu wenig. Die längste Zeit hatte der Mensch Einstein hinter den Bildern, die von ihm kursierten, keinen Platz zugewiesen bekommen. Der orthodoxen Wissenschaftsgeschichte genügten die nachweislichen Leistungen auf dem Gebiet der Physik, sie führte vielleicht noch seine Widerstände gegen weitere Entwicklungen an, das Privatleben blieb wie immer ausgespart. Das Publikum machte sich seinen Reim auf alles, was "relativ" ist, und vergnügte sich im Übrigen am Klischee des fröhlichen, zerstreuten, unfrisierten Professors. Die Reaktionen auf dieses Abziehbild kamen zwangsläufig. Wo viel Heiligenverehrung ist, wächst die Lust am Tabubruch. Wer das einsame Genie feiert, fordert die Suche nach ungenannt gebliebenen Helfern und Assistenten heraus - feministisch gewendet: cherchez la femme! Und wo es noch dazu tatsächlich Anhaltspunkte für ein kompliziertes Privatleben gibt, dort wird es entsprechend ausgeleuchtet. Diese - eine Zeit lang sich zur Mode ausgewachsen habende - Beschäftigung mit den psychischen Korrelaten einer Karriere, Psychobiografie bzw. Psychohistorie genannt, machte auch vor Einstein nicht Halt. Gerade vor ihm nicht.

Zu der Auffettung der dürren Fakten zählt: Einstein hatte mit seiner ersten Frau Milena zwei Söhne, vorher aber eine Tochter, über deren weiteren Lebenslauf es stets heißt, dass er "rätselhaft" gewesen sei. Er begann, noch verheiratet, eine Liaison mit seiner Cousine Elsa, heiratete sie und wurde der Stiefvater von zwei Töchtern aus ihrer ersten Ehe; einer hatte er angeboten, sie anstelle ihrer Mutter zu heiraten. Im weiteren Verlauf hatte er in seiner Berliner Zeit eine Geliebte, die Witwe eines Chefarztes - sie war laut einem Dossier "gebildet, kultiviert und diskret", was immer das heißt. Aus dieser Zeit stammt der häufig kolportierte Satz seiner Frau Elsa, dass Einstein "von vier Frauen, die um ihn sind, blödsinnig verwöhnt" werde, nämlich von ihr selbst, der Geliebten, einer der Stieftöchter und seiner Sekretärin. Ebenfalls in jenen Jahren urteilt sein Arzt János Plesch, dass Einstein "kein Heiliger" sei, vielmehr einen hohen Verschleiß an Freundinnen habe, "je verschwitzter und gewöhnlicher, desto besser".

Für dauerhafte Bindungen war er offenbar ungeeignet. Milena etwa legte er einen Katalog an Verhaltensweisen vor und auf, die im Wesentlichen bestätigen, dass er gerade Frauen gegenüber, egal wie sehr sie von ihm angezogen waren, "ein ziemliches Ekel" gewesen sein dürfte. Milena wird übrigens retrospektiv eine große Rolle am Zustandekommen seiner frühen Arbeiten zugeschrieben, was allerdings nie erhärtet werden konnte; weniger jedenfalls als der von Einstein selbst gewürdigte Anteil seines Freundes Michele Besso. Seine Männerfreundschaften dürften insgesamt unkomplizierter und beständiger gewesen sein.

Aus dem Gesagten und aus Unmengen mehr Material ziehen Einstein-Biografen, zuletzt Jürgen Neffe (Einstein, Rowohlt 2005), den Schluss, dass der Wissenschafter gegenüber Frauen einen "blinden Fleck" hatte und dass ihm Empathie in einem Ausmaß fehlte, das an Autismus grenzte. Neffe zitiert Max Brod, der Einstein aus seiner Prager Zeit kannte und ihm attestierte, dass sich sein Leben unbewusst abspielte, "und zwar im wahrsten Sinne des Wortes unzugänglich für andere wie für ihn selbst", und dass er "im strengsten Sinne unverantwortlich (war) für all das, was er tat". Dazu passt, dass Einstein, wie das Wissenschaftsmagazin heureka! kürzlich schrieb, der Psychoanalyse zumindest ambivalent gegenüberstand und es vorzog, "im Dunkel des Nicht-Analysiertseins zu verbleiben".

Zugleich erschien Einstein vielen Besuchern als liebenswürdiger, aufmerksamer, besorgter Mensch und Freund. Niccoló Tucci beschreibt 1947 im New Yorker einen Besuch bei dem Witwer in Princeton im Kreis von Schwester, Tochter und Sekretärin (derselben wie in Berlin) - wohl immer noch verwöhnt, aber auch selber verwöhnend: Seiner kranken Schwester soll er jeden Abend eine Stunde lang griechische Klassiker vorgelesen haben.

Das ist kein Widerspruch zu den "Enthüllungen" aus Einsteins Leben. Vielmehr ist die Frage, wie viele Schichten man von der Zwiebel der bürgerlichen Normen abschält, bis man zu den Peinlichkeiten vordringt. Bis man weint. Fündig wird man bei vielen, nicht nur beim großen Physiker.

Man könnte auch, ganz unrhetorisch, fragen, inwieweit dieses Eindringen in die Privatsphäre zum Verständnis von Einsteins Leistungen beiträgt. Wäre es nicht so klischeehaft und aufgelegt, könnte man fast sagen: Das ist alles relativ. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6. 3. 2005)