Carl Schorske warnt, die Geschichte betreffend, "vor dem völligen Ignorieren und der völligen Hingabe".

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Dass ein an der Princeton University lehrender New Yorker deutsch-jüdischer Abstammung wesentlich zur Wiederentdeckung der Wiener Wurzeln der Moderne beigetragen hat, zählt zu den Ironien der Geschichtswissenschaft. Erleichtert wurde sie durch blinde Flecken und Versäumnisse in der Alten Welt - und durch die ungebremste, transdisziplinäre Neugierde des Forschers. Am 15. März wird der Historiker Carl E. Schorske 90 Jahre alt.

Seine spätere Konzentration auf die Donaumetropole war nur zum Teil vorgezeichnet. Schorske hatte an Columbia und Harvard Geschichte studiert und an der Ost- und Westküste gelehrt, bevor er 1969 einen Lehrstuhl in Princeton annahm und dort mehrere Jahre das "Program in European Cultural Studies" leitete. Sein Hauptinteresse galt zunächst Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert und den großen Ideengeschichten.

Dabei wurde ihm bewusst, dass sich, wie er vor fünf Jahren im Gespräch mit Richard Reichensperger sagte, "die Krise der Aufklärung in Europa früher als in Amerika vollzogen hatte". Den Gründen für diese Bruchstelle, die am Anfang der Umwälzungen der vergangenen hundert Jahre lag, ging Schorske in London, Paris, Berlin und in der Stadt nach, "über die ich am wenigsten gewusst habe" - in Wien. Umso gründlicher näherte er sich nun dem "Zentrum des europäischen Wertvakuums" (Hermann Broch) beziehungsweise dem Inneren der "Versuchsstation des Weltuntergangs" (Karl Kraus). Schorske, der eigentlich Sänger werden wollte, war bereits ein eklektischer, in hermeneutischer Methode ebenso wie in herkömmlicher Empirie beheimateter, in Kunst, Psychologie und Musikrezeption wildernder Kulturwissenschafter, als "Cultural Studies" noch keineswegs cool waren.

Kühle Rezeption

Entsprechend ambivalent fiel die Rezeption seines monumentalen Werkes "Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture" (1980; deutsch: "Wien - Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle") aus. Spezialisten warfen ihm Generalismus und mangelnde Präzision vor, die Kritik vermischte sich mit dem Klischee, dass ein Amerikaner die Nuancen (Karl Kraus würde spöttisch ergänzen: "das gewisse je-ne-sais-quoi") der Stadt Wien zur Zeit von Mach und Mahler, Lueger und Schönberg, Freud und Kokoschka sowieso nicht dechiffrieren könne.

Er konnte offenbar doch. Nicht allein der Erfolg gab ihm Recht, der sich in einem Pulitzer-Preis, in zahlreichen Übersetzungen und Ehrungen ausdrückte. Schorske wurde nach seiner Emeritierung vor nunmehr 25 Jahren auch zum Katalysator vielfacher Arbeiten über die Ideengeschichten um 1900 und ihre Auswirkungen auf postmoderne Identitäten. Die "Traum und Wirklichkeit"-Ausstellungen in Wien, Paris und New York ab 1985 waren ein frühes, weithin sichtbares Signal seiner beratenden Tätigkeit. Die übte er weiter aus, unter anderem im wissenschaftlichen Beirat des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien und als Mitglied der Österreichischen und weiterer Akademien der Wissenschaften. Auch der Amerikanischen, obwohl er, wie er der Austria Presse Agentur (APA) kürzlich sagte, in den USA nur "eine sehr marginale Rolle" spiele.

Was die Geschichte anbelangt, warnt Carl Schorske vor zwei Haltungen: "vor dem völligen Ignorieren und der völligen Hingabe". (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 3. 2005)