Wie schon seit Monaten erwartet, hat Wladimir Putin die russischen Wahlen mit großem Vorsprung gewonnen. Er wird nicht länger nur "geschäftsführender" Präsident sein. Anstelle dessen regiert Putin jetzt aus eigenem Rechtsanspruch. Aber was ist sein Mandat? Hinweise, was der generelle Tenor seiner Präsidentenschaft sein wird, können vielleicht dann entdeckt werden, wenn sich herausfinden lässt, warum Putins Stern so meteoritenhaft aufgestiegen ist.

Putin steht für Veränderung, zwar für einen unvollständigen, aber doch für einen gewissen Wandel, weil die Russen schon seit langem von Boris Jelzin genug haben. Von einem Magneten für die Massen, einem Idol der Frauen und der Intellektuellen hatte sich dieser in einen schwachen, Mitleid erweckenden alten Mann gewandelt. Die Menschen waren seiner wechselhaften, unvorhersehbaren Amtsführung überdrüssig, wie auch seiner Unfähigkeit, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und innerhalb der korrupten Kreml-Gang integer zu bleiben. Sie machten Jelzin dafür verantwortlich, dass Russland zu einer lächerlichen Macht verkommen war, und waren seiner gebrochenen Versprechen müde geworden.

Jelzins Scheitern

All dies machte Jelzin zu einer recht tragischen Figur. Er übernahm Verantwortung weit über seine Kraft hinaus. Ohne Zweifel bewahrte er die Freiheiten, die Gorbatschow erreicht hatte: Wahlfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit, Gewissensfreiheit. Die Etablierung einer wirklichen, anhaltenden Freiheit - der Freiheit, in einem verantwortungsvollen, sicheren und stabilen Staat zu leben - gelang ihm jedoch nicht.

Unter diesen Umständen schien jeder aus dem Umfeld Jelzins ausgewählte Präsidentschaftskandidat schon von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Aber Putin konnte seinen Gönner überwinden, gerade weil er nicht aus Moskau und nicht aus dem Kreml kam. Er wurde nicht als ein Mann aus dem Stapel der - vom vielen Mischen - abgenutzten politischen Spielkarten des Kremls betrachtet. Putin wurde auch nicht als Kreatur der "Familie" - das waren die Berater, Unterstützer und Helfer, denen Jelzin vertraute - angesehen.

Für alle Gelegenheiten

Das jugendliche Alter Putins, seine Energie und seine Fähigkeit, in der Sprache des Volkes zu sprechen, sind sichtbare Zeichen für die Veränderung, die er zu versprechen scheint. Noch bedeutender ist, dass er alles für alle Menschen in Russland ist. Unsere Intelligenz liebt ihn, weil er regelmäßig das Theater, die Oper und das Ballett besucht. Die Ökonomen freuen sich, weil er die Gesetze des freien Marktes versteht. Auch die Juristen sind glücklich, denn er hat eine "Diktatur des Gesetzes" versprochen. Politiker des gesamten politischen Spektrums unterstützen ihn, weil sein politisches Programm die ganze Skala vom Kommunismus bis zum Liberalismus umfasst. Und nicht zu vergessen: Er ist ein Mann des Militärs und des KGB.

Auch Tschetschenien signalisierte dieses Versprechen eines Wandels. Obwohl viele den zweiten Tschetschenien-Krieg als Verschwörung im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen betrachten, waren es die Tschetschenen, die Putin - mit ihrer Invasion in Dagestan im August 1999 - die alle einende Sache und ein Wahlkampfthema in die Hand spielten. Opportunistisch, wie er ist, traf Putin die Stimmung des Volkes und machte an ihr seine Zukunft fest. Er wählte die "Einheit Russlands" und die "Gefahr einer Desintegration Russlands" als Fundament für seine Politik und übernahm so "die edle Aufgabe, alle Separatisten zu schlagen".

Wie die Nordstaaten, die sich in Amerikas Bürgerkrieg Abraham Lincoln angeschlossen hatten, unterstützten die meisten Russen Putin ganz echt, weil er nicht zögerte, für ein "Gesamt-Russland" zu kämpfen. Diese Entscheidung kam dem verwundeten russischen Nationalstolz sehr entgegen, weil sie den Beweis dafür lieferte, dass Russland in seinem eigenen Interesse handeln und harte Entscheidungen treffen konnte, unabhängig davon, was der Westen sagte.

"Diktatur des Gesetzes"

Obwohl die Rückeroberung Tschetscheniens Putins ganze Energie erforderte, war Russland der eigentliche Preis, und er behielt dies genau im Auge. Das mit dem Tschetschenien-Krieg verwobene Versprechen, den Staat durch die Schaffung von Recht und Ordnung zu stärken, festigte Putins Anspruch auf die Präsidentschaft. Die "Diktatur des Gesetzes", diese einzige Art von Diktatur, die Russland in seiner Geschichte nie erfahren hat, bildet den Kernpunkt seines Programms und ist die wahre Quelle für seine Stärke und Popularität. Die Russen mögen starke Führer und jeder, insbesondere der Westen, besteht darauf, dass Russland Rechtsstaatlichkeit braucht. Putin ist vielleicht einer der wenigen, deren Popularität auf dem Versprechen basiert, Härte zu zeigen.

Trotz seines Images als harter Mann des KGB, ist Putin sehr geschickt im Zufriedenstellen von Menschen. In der Tat ist sein erstaunlichstes Attribut die intellektuelle Flexibilität, das zu sagen, was jeder hören möchte. In dieser Hinsicht ähnelt Putin einem magischen Spiegel. Jeder, der in ihn hineinschaut, sieht sich selbst. In einer Wahlkampagne war das eine sehr nützliche Eigenschaft, weil es Putin nahe an jeden heranbrachte: an die, die vorwärts blicken genauso wie an die, die zurückschauen, an die liberalen Demokraten und die illiberalen Konservativen, an die Nationalisten, Patrioten, Kommunisten und Unabhängigen, an die Föderalisten und die Konföderalisten.

Mut zur Unpopularität

Putin trägt diese vielen Hüte sehr geschickt. Aber die Fähigkeit, alles für alle Menschen zu sein, funktioniert nur während des Wahlkampfes. Wenn diese Strategie auch in einer Regierung verfolgt wird, dann kann sie schwächen. Putin muss mehr als populär sein, wenn er Erfolg haben will. Was also wird Putin Russland geben? Das ist das Geheimnis, vor dem Russland nun steht, weil uns dieser langweilige Wahlkampf nur ein Ratespiel hinterlassen hat. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was Demokratie sein soll.

Wahlkämpfe sollten aufregend und richtungsweisend sein; im Regieren liegen die stumpfe Schufterei der detaillierten Politik und die Bemühungen um genügend Unterstützung für notwendige Aktionen, die Wohlstand und Frieden zum Ziel haben. Hier Erfolg zu haben, kann im Ablehnen bestimmter Entwicklungen genauso liegen wie in der Suche nach Zustimmung. Um Ergebnisse hervorzubringen, muss Putin aufhören, jedem gefallen zu wollen, und wirklich mit dem Regieren beginnen.

Aleksander Bovin ist internationaler und politischer Chefkorrespondent für die russische Tageszeitung "Izvestia" und ehemaliger russischer Botschafter in Israel.
© Copyright: Project Syndicate, Prag, März 2000