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Unter dem Namen "Villa Baviera" ist die Kolonie im Süden Chiles bis heute in Betrieb. Rund 280 Mitglieder der einstigen Sekte leben noch immer auf dem Gelände.

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Ende 1997 flohen zwei Männer aus der südchilenischen Deutschensiedlung "Colonia Dignidad". Tobias Müller Altvogt und sein chilenischer Freund Zalo Luna nutzten die Gelegenheit, als die Wächter durch ein Fest abgelenkt waren. Es gelang ihnen, im strömenden Regen ihren Verfolgern zu entkommen. Die Bewohner eines nahegelegenen Dorfes versteckten sie, und 24 Stunden später waren sie auf dem Gelände der deutschen Botschaft in Santiago in Sicherheit. Vor ihrer Ausreise sagten sie vor den chilenischen Behörden aus.

Die Geschichte

Der ehemalige Wehrmachtsgefreite und Sanitäter Paul Schäfer stand schon in Deutschland unter dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs: Ende der 40er Jahre wurde der 1921 in Siegburg bei Bonn geborene Deutsche als Jugendpfleger der evangelischen Kirche entlassen, als sich Verdachtsmomente verdichteten.

Schäfer wandte sich daraufhin einer eigenen Auslegung der baptistischen Glaubensrichtung zu: In den 50er Jahren sammelte er zahlreiche Anhänger um sich, denen er unter anderem eine strikte Trennung der "wahren Gläubigen" von anderen Gläubigen predigte.

1956 gründete er die "Private Sociale Mission" in Siegburg bei Bonn. Nachdem ihm erneut sexuelle Vergehen an Jungen vorgeworfen wurden, floh Schäfer 1961 mit mehreren hundert Anhängern nach Chile.

400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago gründete er auf 3000 Hektar die "Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad" (Wohlfahrts- und Erziehungsgesellschaft "Würde").

Dort baute er eine nach äußerem Anschein "heile Welt" auf. Die Nachbarn waren begeistert von den "hilfsbereiten Deutschen", deren Krankenhaus und Schule auch der Bevölkerung der Region offen standen.

Die "Zeit" beschrieb 1997 die Bewohner der Colonia: "Die Frauen tragen sämtlich Dutt, die Männer zumeist strenge Scheitel."

Kein Kontakt zur Außenwelt

Im Inneren der "Colonia Dignidad" herrschte Schäfer jedoch nach strengen Prinzipien. Männer und Frauen lebten strikt getrennt und praktisch ohne Kontakt zur Außenwelt. Gearbeitet wurde sieben Tage die Woche ohne Bezahlung. Schäfer, der sich in der Colonia "Doktor" nennen ließ, verlangte von seinen Anhängern sexuelle Askese.

1985 gelang Georg und Lotti Packmor die Flucht aus der Colonia. Weil die deutsche Botschaft gute Kontakte zu Schäfer hatte, flüchteten sie in die Vertretung Kanadas, die ihnen die Ausreise ermöglichte. 1988 berichteten sie vor dem Bonner Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses von ihrem Eheleben: Jahrelang hätten sie sich nachts heimlich nur für Stunden treffen können. Danach sei jeder wieder in sein Zimmer gegangen, das er sich mit anderen teilen mußte.

Nach dem Militärputsch von 1973 entwickelte sich die "Kolonie der Würde" unter Pinochet zu einem Folterlager des ehemaligen chilenischen Geheimdienstes DINA. Die Colonia Dignidad war der Ort, an dem die Abteilung der DINA, die für die spurlose Ermordung politischer Gefangener zuständig war, die meisten Menschen "verschwinden" ließ.

Mehreren Quellen zufolge gaben Führungskräfte der Deutschensiedlung den Agenten der DINA bei ihren Verhören und Foltermethoden Anweisungen und sorgten dafür, dass ausländische Agenten ihre chilenischen Kollegen in diesen Techniken unterwiesen. Nach Aussagen einiger ehemaliger politischer Gefangener war Schäfer selbst an den Folterungen beteiligt.

Flüchtlinge aus der "Colonia Dignidad" erhoben bereits Mitte der 60er Jahre Anklage gegen Schäfer, dennoch richtete sich erst in den 90er Jahren das Augenmerk der chilenischen Justiz auf die von Schäfer errichtete Enklave.

Deutsche Unterstützung

Aus Deutschland war zu dieser Zeit kaum Kritik an der Siedlung zu hören: Der ehemalige Münchner CSU-Stadtrat Wolfgang Vogelsang schwärmte nach einem Besuch: "Man ist konservativ, denkt an Bayern, zeigt die Fahne mit Löwen und Raute - Hoffnung für Deutschland!". Im zentralen Bau der Siedlung hing noch Mitte der neunziger Jahre ein signiertes Porträt von CSU-Chef Franz Josef Strauß. Die deutsche Botschaft in Santiago hielt engen Kontakt mit Schäfer.

"Colonia"-Gründer Paul Schäfer wurde in Abwesenheit wegen Vergewaltigung von 26 Knaben verurteilt.

Der "Rettig-Bericht" der chilenischen Regierung von 1991 besagt – ebenso wie der Bericht der Kommission Valech von 2004 – dass in der "Colonia Dignidad" politische Gegner der Militärregierung gefoltert wurden.

Im Juni 1996 klagte eine Mutter Schäfer wegen Missbrauchs ihres Sohnes an. Sonderermittler Hernán González übernahm den Fall und erließ einen Haftbefehl gegen Schäfer. Im folgenden Jahr kamen noch weitere Anklagen hinzu. Zu diesem Zeitpunkt war Schäfer bereits untergetaucht.

Paul Schäfer nach einem Gerichtsauftritt im chilenischen Parral 1989

González erhob in 27 Fällen Anklage gegen den Flüchtigen. Am 16. November 2004 wurde Schäfer in Abwesenheit wegen Missbrauchs von Minderjährigen in 26 Fällen verurteilt. Doch die Deutschensiedlung erfreute sich bester Beziehungen zur chilenischen Oberschicht: "Die Colonia wird in Deutschland von Abgeordneten der Christdemokraten und bayrischen Unternehmern gedeckt, und in Chile schützen sie hohe Beamte des Militärs und der Polizei", berichtete Heinz Kuhn, der 1968 als zweites Mitglied aus der Sekte fliehen konnte.

1997 wird von der Colonia Dignidad eine "Kinderdemo" organisiert.

Das in nicht unbedingt kindlicher Handschrift gehaltene Schild "Angelo. Heute wissen alle Leute, dass die Polizei dich misshandelt und dich zwingt zu lügen" ist an einen Zeugen der Anklage gerichtet.

Die chilenische Polizei durchsuchte mehrmals erfolglos das Gelände der Colonia, die während der Pinochet-Diktatur auf über 80 Quadratkilometer gewachsen war. Die Beamten entdeckten ein komplexes System von Tunneln und Bunkern, Schäfer wurde aber dank seiner Beziehungen zu den Behörden der umliegenden Gemeinden immer rechtzeitig gewarnt und konnte sich in Sicherheit bringen.

1996 setzte sich Schäfer nach Argentinien ab, wo er mit falschen Papieren reiste. Ein Jahr später checkte als er unter seinem richtigen Namen in einem Hotel im Ferienort Bariloche ein und entging den Fahndern nur knapp durch einen Sprung aus dem Fenster.

Paul Schäfer nach seiner Verhaftung

Am 11. März 2004 wird Sektengründer Schäfer nach jahrelanger Flucht im Country Club "Las Acacias" im argentinischen Ort Tortuguitas nordwestlich von Buenos Aires festgenommen. Von seinen Aussagen erwarten sich die chilenischen Behörden Aufschluss darüber, was in der Siedlung während der Pinochet-Diktatur wirklich geschah. Bei Ausgrabungen auf dem Gelände wurden mittlerweile die Überreste zweier Autos gefunden, die verschwundenen Regimegegnern gehört haben.

Auf dem Gelände leben heute noch rund 280 Mitglieder der einstigen Sekte. Viele von ihnen sind hochbetagte Deutsche, die kaum spanisch sprechen und dementsprechend isoliert sind. (bed/derStandard.at, 18.3.2005)