Foto: Standard/Fischer
Also noch einmal Sophie Scholl. Es gibt schon zwei Filme und mehrere Bücher über sie und die Weiße Rose, und ein neuer Film setzt sich daher den Vergleichen und der Kritik aus. Was ist neu? - das ist die eine Frage, die andere: Wird hier etwa zu viel literarisiert, heroisiert, theatralisiert?

Die Antwort zu der ersten Frage liegt in den Dokumenten, die erst kürzlich aus den Archiven der ehemaligen DDR zugänglich geworden sind. Sie belegen vor allem die Verhöre, die ein Gestapobeamter namens Robert Mohr mit Sophie Scholl führte.

In dem sehr aufschlussreichen Buch zum Film (erschienen als Fischer Taschenbuch), der das ganze Drehbuch, den Text der Flugblätter, die Verhörprotokolle, Kurzbiografen, und eine kurze Geschichte der Weißen Rose enthält, lesen wir, dass Sophie mit niemandem in ihren letzten Tagen mehr gesprochen hat als mit diesem Robert Mohr. Er war ein komplexer Charakter, ganz anders als der tobende, rasende Freisler, der Richter, welcher die Scholl-Geschwister zum Tod verurteilte.

Freisler tritt gegen Ende des Films in den Gerichtsszenen auf, wie erfunden für die Rolle als Kontrastfigur zu Robert Mohr. Nur war Freisler leider wirklich die Karikatur eines Richters, wie es sie seit Kleists Richter Adam nicht mehr gegeben hatte. Dem Gestapoverhörer Robert Mohr dagegen, der selbst einen mit Sophie gleichaltrigen Sohn an der Ostfront hatte, war die junge Angeklagte sympathisch; er wollte sie sogar retten, indem er ihr vorschlug, die ganze Verantwortung auf den älteren Bruder abzuwälzen.

Mohr: "Ist es denn nicht so gewesen, dass Sie sich auf Ihren Bruder verlassen haben, dass es richtig war, was er getan hat, und Sie einfach nur mitgemacht haben? Sollen wir das nicht noch ins Protokoll aufnehmen? Sonst kann keiner mehr etwas für Sie tun."

Sophie lehnte empört ab, "weil es nicht stimmt".

Spätestens an diesem Punkt wurde mir klar, was mich an diesen Verhörszenen so fesselte. Diese Weigerung zu lügen, diese absolute Opferbereitschaft, diese Treue zum Bruder - wo war das schon einmal?

Es ist eine archetypische Situation, tief verwurzelt im Bewusstsein des Westens, verkörpert in unserer ersten und besten und bewunderungswürdigsten dramatischen Heldin, in Antigone, der gewaltlosen Widerständlerin, die dem Machthaber trotzt, und die Leiche des Bruders mit einer Hand voll Erde weiht. Das ist die leichte/schwer wiegende große Geste beim Sophokles, die uns Heutigen ein wenig absonderlich vorkommt.

Aber nicht weniger abwegig ist auch die große/kleine Geste der Sophie Scholl, auch sie kaum mehr als eine Handbewegung, die das Schicksal der Verschwörer besiegelte, nämlich der Schub, mit dem sie die Flugblätter der Weißen Rose, die nur in Stapeln liegen bleiben sollten, von der Empore im zweiten Stock der Universität München in den Lichthof und unter die Studenten flattern ließ. Dadurch lenkte sie die Aufmerksamkeit auf sich und ihren Bruder. Zwei unpathetische Gesten, diese Drehungen einer harmlosen Hand, bei Antigone wie bei Sophie Scholl, mit unvermuteter, heimlicher Sprengkraft und Pathos.

Ähnlich in der Szene kurz vor der Hinrichtung, als Sophie bei einem Geistlichen Trost und Segen sucht und findet. Ob hier bewusst oder unbewusst ein Echo von der Beichtszene im 5. Akt von Schillers Maria Stuart mitschwingt, die deutsche Theaterbesucherin wird unweigerlich an diesen Auftritt erinnert, der vielleicht als die eindrucksvollste Darstellung von Todesbereitschaft im deutschen Drama gelten kann.

Und damit sind wir bei der zweiten anfänglich gestellten Frage, der nach der Funktion der Literalisierung, bzw. Verfilmung, von historischem, besonders von zeitgeschichtlichem Material.

Theatralik ist unvermeidlich, denn wir haben es mit SchauspielerInnen zu tun, mit einem Dokudrama - eine Bezeichnung, die leicht Misstrauen erregt, obwohl Meisterwerke wie Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin dazugerechnet werden. Das ist kein Dokumentarfilm mit Fotografien, sondern ästhetische Nachahmung des wirklich Geschehenen. Allein das Wort "tragisch", das wir gerne für Situationen aus dem Leben verwenden, deutet in eine literarische Richtung und trivialisiert das Geschehen keineswegs, sondern erhöht und bereichert es um eine Dimension.

Nach der Festnahme der Geschwister Scholl sitzen sich zwei hervorragende SchauspielerInnen, Alexander Held und Julia Jensch, letztere als beste Schauspielerin bei der Berlinale ausgezeichnet, gegenüber und vertreten ihren jeweiligen Standpunkt, er das Gesetz, sie das Gewissen und die Treue zu Familie und Freunden.

Mohr: "Ohne Gesetz keine Ordnung ... Woran soll man sich denn sonst halten, als an das Gesetz, egal, wer es erlässt?"

Sophie: "An Ihr Gewissen. ... Das Gesetz ändert sich. Das Gewissen nicht."

Mohr: "Wo kommen wir denn hin, wenn jeder selbst bestimmt, was nach seinem Gewissen richtig oder falsch ist?"

Diese Szenen handeln von der reinen Tat, von der vielleicht nutzlosen schönen Tat, ausgeführt um ihrer selbst willen, für die man sein Leben aufs Spiel setzt und wenn nötig wegwirft. Dabei ist Sophies Lebensfreude ein wesentlicher Bestandteil der Tragödie. Wir beobachten sie, wie sie aus dunklen Räumen kommend die Sonne genießt, blinzelnd und fast glücklich, und denken vielleicht an Ingeborg Bachmanns bekannten Vers: "Nichts Schöneres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein." Julia Jensch gelingt es, Lebensfreude und Todesbereitschaft im feinsten Mienenspiel zu vereinen, was ja im Film dank der Close-ups möglicher ist, als im Theater.

Überhaupt beherrschen sowohl Jensch wie Alexander Held die Kunst des Mienenspiels hervorragend, wie es Zweifel, Sympathie, Frustration ausdrückt und somit die dramatische Basis der Verhörszenen aufbaut.

Ich komme aus dem Kino und sehe rechts und links von mir verweinte Gesichter. In den nächsten Tagen hat die Kritik da und dort das und jenes an dem Film auszusetzen. Ich lasse ihn im Kopf nochmals zurücklaufen und komme zu der Stelle, wo Sophie sich weigert zu lügen, ihren Überzeugungen abzuschwören und den Bruder, der sowieso verurteilt wird, noch mehr zu belasten.

Wie wohl jeder Mutter im Publikum kam mir spontan der Gedanke: Kind, was für ein Unsinn. Bleib leben, wir brauchen dich. Wem hilfst du mit dieser Haltung und diesem Stolz vor einem Gegner, der doch nur das Verbrecherregime vertritt? Ich frage mich: Hat sie das nötig gehabt? Haben wir das damals gebraucht? Brauchen wir es heute?

Das Schlussbild des Films bietet seine positive Antwort, wenn alliierte Bomber ein Flugblatt der Weißen Rose zu hunderttausenden über deutsche Städte abwerfen. Aber bauen uns die Filmemacher da nicht die goldene Rettungsbrücke, die Sophie ablehnte? Der Krieg wurde durch die Flugblätter ja nicht gewonnen, nicht einmal verkürzt. Die Fragen nach dem Sinn solcher Opfer bleiben offen. (DER STANDARD, Print, 19./20.3.2005)