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STANDARD: Nach Großbritannien und Deutschland sind die Supernannys auch in Österreich angekommen. ATVplus hat ein eigenes Format. Sie selbst beraten im ORF in Help-TV. Wie erklären Sie sich den Erfolg der TV-Erzieherinnen?

Leibovici-Mühlberger: Erziehung ist ein ganz schweres Geschäft geworden. Wir haben einen extremen Lebenstempozuwachs in der Gesellschaft, neue Themen wie Multikulturalität, pluralistische Wertewelt, veränderte Kontinuitätserwartungen an Beziehungen - lauter Dinge, die vor 30 Jahren keinen tangiert haben, aber auf die die Erziehung reagieren muss. Daher besteht ein enormer Beratungsbedarf, nicht Therapiebedarf, wenn man es zeitgerecht abfängt.

STANDARD: Muss man, so ein deutscher Buchtitel, von "Erziehungsnotstand" sprechen?

Leibovici-Mühlberger: Das kann man nicht pauschalisieren. Wir haben sehr bemühte Eltern, die sich sehr bewusst mit dem Thema auseinander setzen. Wir haben aber auch solche, die aufgegeben haben und die Kinder in den Peer-Gruppen sich selbst erziehen lassen. Und Eltern, die kämpfen und immer unterzugehen drohen und oft mit den eigenen Problemen übervoll sind. Im Durchschnitt sind die Eltern immer mehr überfordert.

STANDARD: Erziehen ist also schwieriger geworden?

Leibovici-Mühlberger: Es ist komplexer und anforderungsreicher geworden. Man kann nicht mehr auf das alte traditionelle Erziehungsschema zurückgreifen. Das wird auch von Kindern offen abgelehnt und es ist auch nicht mehr sinnvoll. Vor hundert Jahren waren sie gut beraten mit einem autoritären Erziehungsschema. Sie sollten Obrigkeitstreue, gehorsame Staatsbürger erziehen, und wussten, ihr Kind wird, so erzogen, einen guten Platz finden. In einer globalisierten, vernetzten Welt reicht das nicht.

STANDARD: Was ist denn eigentlich gute Erziehung?

Leibovici-Mühlberger: Sie können umso besser erziehen, je mehr Sie mit sich selber im Reinen sind. Erziehungsarbeit ist immer auch Elternarbeit an sich selber, hat immer mit der Fähigkeit, sich selbst kritisch zu reflektieren, zu tun. Ganz wesentlich ist natürlich, dass Sie dem Kind mit Respekt und Liebe entgegentreten. Das Grundspielfeld ist das positive Annehmen meines Kindes in seiner Individualität.

STANDARD: Und woher sollen Eltern wissen, wie Erziehen geht?

Leibovici-Mühlberger: Es ist mir wichtig, die Eltern aufzurütteln. Man darf sagen, ich kenn mich nicht aus. Man muss es nicht von vornherein können. Am Ende sollen die Kinder fit for life und selbstständig sein, das ist letztlich das Ziel von Erziehung.

STANDARD: Gibt es immer mehr schwierige "Problemkinder"? Leibovici-Mühlberger: Es sind nicht die Kinder, sondern die Umstände rundherum, die schwieriger geworden sind. Es gibt mehr Probleme und mehr Konflikte, mit denen Kinder konfrontiert werden.

STANDARD: Die TV-Nannys vermitteln den Eindruck, eine Woche Kinder-Mechanikerin im Haus reicht und der Kinderschaden ist behoben.

Leibovici-Mühlberger: Das geht natürlich absolut am Kern vorbei, wenn im Endeffekt Kinder als Monster und Eltern als Versager übrig bleiben. Die Supernannys kommen, machen Highnoon und die Sache rennt. Die machen da sozusagen ihre Dressurwerkstätte und dann funktioniert die Sache wieder. Von diesem Zugang distanziere ich mich.

STANDARD: Wie ist Ihr Zugang?

Leibovici-Mühlberger: Zuerst ein Grundrespekt im Umgang mit der Familie als System. Ich kann da gar nichts besser. Was ich habe, ist fachliches Handwerkszeug, die Außenperspektive und 20 Jahre Erfahrung. Damit versuche ich bei den Familienvisiten, die Ressourcen der Leute mit ihnen zu entwickeln für ihren Familienalltag. Nicht ich komme und löse es von außen. Das geht überhaupt nicht.

STANDARD: Kritiker sehen Kinderrechte verletzt, wenn ein tobendes Kind vorgeführt wird.

Leibovici-Mühlberger: Das hängt sehr stark ab von der Art der Darstellung. Man muss sich mit der eigentlichen Tiefendynamik der Familie auseinander setzen, die ja Nutzen haben soll. Das kann man filmisch begleiten. Es darf nicht darum gehen, spezielle, laute, nur medienwirksame Szenen einzufangen. Wenn es so gemacht wird, ist es ein harter Hasard für die Rechte der Kinder und auch der Familien. Es muss in einer Form passieren, wo sich alle Betroffenen respektiert fühlen können.

STANDARD: Haben Eltern noch immer zu viel Scheu, sich professionelle Hilfe zu holen?

Leibovici-Mühlberger: Ja, eindeutig. Sie lassen es dann oft laufen, es wird unter den Teppich gekehrt, bis es gar nicht mehr geht oder die Symptome so auffallend sind, dass es oft sehr spät kommt. Dann ist meist schon Kinderpsychotherapie notwendig. Da wäre wichtig, Bewusstsein zu machen. Ich habe eine Vision: Im Mutterkindpass gibt es auch einen Elternbildungsscheck. Es geht nicht um Belehrung, sondern um kritische Auseinandersetzung mit Erziehung. (DER STANDARD; Printausgabe, 26./27./28.3.2005)