Über Geschmack kann man bekanntlich streiten. Auch und vor allem über den literarischen. Die laut Bifie "Kurzgeschichte“ (textsortenspezifisch würde man sie ja eher eine Parabel, wenn nicht hochtrabend einen Essay nennen) von Manfred Hausmann mit dem Titel "Die Schnecke“ liest sich auf den ersten Blick wie aus dem Roman "Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche zitiert. Feuchtes Funkeln,  Schimmer, Schleim, aufsteigende glitzernde Bläschen, ein schrumpfender Schwanz, der sich dann wieder ausstülpt, alles quillt, der weiche Leib schwimmt vor und schwebt und: "Oh jetzt? Was geschieht jetzt? Das Glimmen und Wehen und Schimmern nimmt den Mann gefangen, das Licht im Gehäuse hört nicht auf zu erscheinen und sich zu trüben,  zu versickern und von neuem aus der Tiefe zu steigen.“ Richtig schön.

Man wünscht dem Mann aus der Geschichte, deren Autor 1929 in Romanform einen "Salut gen Himmel“ abfeuerte, erotische Erfüllung auch jenseits der Schnecke. Denn um eine solche handelt es sich beim Objekt seiner Verzückung. Und fast tut er einem leid, dass er sich so hinreißen ließ von einer Unwürdigen: "Von dieser Art also, denkt der Mann, sind die Schnecken, über die ich mich jeden Morgen so ärgern muss, weil sie von den jungen Salatpflanzen so gut wie nichts übrig lassen, von dieser atemberaubenden Schönheit also! Was soll ich nun mit dieser hier machen?“

Hier haben wir den Salat. Der nämlich ist von Schnecken angeknabbert. Unser Mann ringt mit sich, um Schönheit und Nützlichkeit, um Gewordenes und Gewolltes, um Unschuld und Wissen, um Traum und Wachheit, um Blut und Geist u. v. a. m. Denn: "Alles ist gleich schön und gleich widerwärtig.“

Im Sinne des übergeordneten Nutzens zertritt unser Mann die Schnecke, was ihm sichtlich nicht leicht fällt, er setzt seinen Hacken darauf und dreht ihn hin und her, beißt die Zähne fest zusammen, bis es knirscht. (Die Zähne, nicht die Schnecke.) Weil er aber ein Sensibelchen ist, steigt dabei ein "mythisches Grauen“ in ihm auf, das sich bis zur "heillosen Zerrissenheit“ steigert. Der Mann und sein Salat tun dem Leser mehr leid als die zerquetschte Schnecke, so viel steht fest.

Peinlich

So weit, so peinlich. Wir dürfen hoffen, dass die angehenden MaturantInnen im Literaturunterricht auch gegen Kitsch, Schwärmerei und Schwulst ausreichend geimpft wurden. Ich muss gestehen, als Deutschlehrerin habe ich eher immer gute Texte zu vermitteln versucht, denn schlechte gibt es genügend in Selbstbedienung. War vielleicht ein Fehler. Doch was jedem/r österreichischen SchülerIn mitgegeben wurde, ist, dass es zwischen 1933 und 1945 keine, wie in der Bifie-Infobox fälschlich angegeben, "freien Schriftsteller“ gab.

Darüber täuschen auch die flockigen Stichworte "Amerikareise“ und "Worpswede“ nicht hinweg. Entweder waren die Autoren jüdisch, dann wurden sie samt ihrem Werk vernichtet, oder sie waren arisch, aber auch dann waren sie nicht frei. Tertium non datur. Wollten sie Qualitatives verfassen, mussten sie ins äußere oder innere Exil. Letzteres bedeutete, dass sie nicht mehr veröffentlichten. Manfred Hausmann hat sich durch den  Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit durchgewunden wie eine Blindschleiche.

Er gab sich, religiös verbrämt, der Volkstumsideologie und dem Kraftkult hin und meinte in seinem Aufsatz "Sport und Krieg“, der Krieg sei die Vollendung dessen, was das tiefe Geheimnis des Sports ausmache. Er schrieb für Göbbels Zeitung "Das Reich“ und verfasste kriegsverherrlichende Gedichte wie "Das Schwert“.

Das mag ja alles hingehen, die Zeitumstände, die spätere religiöse Läuterung und so weiter. Ich will den Stab über Manfred Hausmann nicht brechen. Aber was hat der kitschige Text eines fragwürdigen Autors in einer österreichischen Zentralmatura des Jahres 2014 als Vorlage für eine "literarische Interpretation“ zu suchen? Sein Text "Die Schnecke“ wurde 1947 verfasst und empfiehlt das Töten eines Schädlings aus utilitaristischen Gründen, so schwer dies im Sinne einer mythischen Naturerfahrung auch fällt.

Wäre dieser Text in einer modernen Schrebergartenzeitung zum Thema Schneckenplage erschienen, kein Problem. Von ökologischer Relevanz im Sinne der Themenstellung ist das Zertreten einer Schnecke ohnehin nicht, denn die moderne agrarische Schädlingsbekämpfung fährt da ganz andere Geschütze auf. Es kommt immer auf den Kontext an. Als angeblich "literarischer“ Text beansprucht das Machwerk ja eine Meta-Ebene. Und die ist massenmörderisch, 1947, zwei Jahre nach der flächendeckenden Vernichtung  von "Volksschädlingen“ zur Rettung der "Volksgesundheit“.

Infobox ist hier wichtig

MaturantInnen sind auf die ihnen vorgelegten Texte und die dazugehörige Infobox angewiesen. Denn wer kennt schon Manfred Hausmann. Sollten sie mit ernstem Bemühen auf diesen schleimigen Schwulst eingegangen sein, ist ihnen daraus kein Vorwurf zu machen. Aber vielleicht haben beim einen oder anderen Prüfling im Zusammenhang mit „1947“ und „Schneckenzertreten“ die Alarmglocken geschrillt, und sie haben sich entgegen der Aufgabenstellung geäußert, die ihnen hier ökologisches Denken abverlangte und nicht historisches. Ihnen gebührt eine Auszeichnung. (Leserkommentar, Sabine Wallinger, derStandard.at, 19.5.2014)