In seiner Abhandlung über den europäischen Universalismus erklärt US-Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein die Praxis des gewaltsamen Erzwingens der Zivilisation gegenüber der "Barbarei der Anderen" seit den Anfängen des Zeitalters der globalen Kolonialisierung im 16. Jahrhundert. Edward Saids "Orientalismus" und Maria Todorovas "Balkanismus" erweitern Wallersteins These durch die Beschreibung intellektueller Strategien der Neuzeit, die zur Verdinglichung des jeweils Anderen im Sinne seiner Unterlegenheit führen. Diese Anderen werden als beschränkt und als nicht zur Modernisierung fähig dargestellt. Ähnlich beschreibt auch Yale-Professor Timothy Snyder die historische Wahrnehmung der "minderwertigen Ukrainer" seitens der großen Aggressoren des 20. Jahrhunderts, Nazi-Deutschland und die Sowjetunion, in seiner preisgekrönten Geschichtsanalyse Bloodlands als tragende Rechtfertigung für deren Machtansprüche.
Um die Barbarei der Anderen und Wertesysteme, die aus geschichtlichen Umbrüchen hervorkamen, ging es auch bei einer von Snyder und Leon Wieseltier, dem Herausgeber des liberalen US-Magazin The New Republic, organisierten Solidaritätskundgebung vergangene Woche in Kiew. Prominente westliche, ukrainische und russische Intellektuelle nahmen an einem Dutzend öffentlicher Debatten unter dem Titel Ukraine: Thinking Together teil. Die zentralen Fragen betrafen die Grundrechte im 21. Jahrhundert, Reflexionen zur Rolle von Intellektuellen und Politikern als Grenzgängern, aber auch das Phänomen der Rückkehr der Geopolitik, die viele schillernde zivilgesellschaftliche Akteure in die ukrainische Hauptstadt brachten. Unter ihnen Slavenka Drakulic, Agnieszka Holland, Wiktor Jerofejew, Bernard-Henri Lévy, Ivan Krastev, Karl Schlögel, Marci Shore, Slawomir Sierakowski oder Martin Simecka.
Grundtenor der Diskussionen: Der fortschreitende Konflikt in der Ukraine steht stellvertretend für den globalen Wettstreit um die postkoloniale Neudefinition des politischen Wertesystems. Die Ost-West-Teilung sei bereits vor Jahren weggefallen, das Links-rechts-Spektrum scheint aufgehoben. Russlands Vorgehen wird sowohl vom rechten als auch vom linken Rand Europas unterstützt - die Ukraine wird währenddessen als bemitleidenswertes Opfer extremistischer Gruppierungen dargestellt.
Es gibt kein Zurück zur Nationalstaatlichkeit, nur ein Mehr an supranationaler Integration. Im neuen "großen Spiel" des 21. Jahrhunderts wird diese Integration zwischen dem Modell der EU und der eurasischen Vorstellung Russlands entschieden. Es geht um nichts weniger als die dominierende Gesellschaftsordnung der Zukunft. Während fünf Tagen wurde man in Kiew also nicht müde, die Barbarei des jeweils Anderen zu betonen: das liberal-dekadente "Gayrope" versus das reaktionär-faschistische Eurasien.
Essenziell in diesem Kontext auch die Frage über den Zerfall der Sowjetunion: War es tatsächlich jene Zäsur, mit der ein neues Zeitalter angebrochen ist? Und war dieses von einer langsam voranschreitenden Demokratisierung und Ausbreitung der freien Marktwirtschaft Richtung Osten geprägt? Haben seitdem wirklich alle Völker Europas ein Selbstbestimmungsrecht, die eigene Gesellschaftsordnung zu wählen? Wladimir Putins Meinung hierzu ist weitläufig bekannt.
Kein Narrativ
In Europas Hauptstädten ist man sich uneins über eine moralische Verantwortung, Ländern wie der Ukraine, aber auch Moldau und Georgien, die Möglichkeit zu geben, in Zeiten einer Realpolitik der globalen Ressourcensicherung und asymmetrischen Kräftemessens Teil des europäischen Universalismus zu werden. Der lebendige zivilgesellschaftliche Austausch stand daher paradigmatisch für die EU im Gedenkjahr 2014: viele offene Fragen über die Zukunft des Kontinents, viele Meinungen und Argumente - aber kein Narrativ, wie man gemeinsam vorgehen sollte. Die europäische Politik vergisst nur allzu schnell den eigentlichen Ursprung der Proteste am Maidan: der ehrliche Wunsch einer überwältigenden, sehr heterogenen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, Teil Europas zu sein.
Kritisches Wissen
Wenn man geschlossen und entschieden vorgeht und die latenten nationalen Hegemoniebestrebungen dies- und jenseits des Atlantiks endlich hinter sich lässt, wäre das ein erster Vorbote eines echten Universalismus. Die Ukraine, so tragisch die Ereignisse dort auch sind, bietet der EU die einzigartige Chance einer neuen Zukunft an. Der größte Feind der Freiheit ist letztlich nicht die Barbarei der Anderen, sondern die zutiefst menschlichen Eigenschaften des selektiven Verdrängens und Vergessens. Die Politik sollte das Potenzial und kritische Wissen der transnationalen Zivilgesellschaft dringend nutzen, da die Zukunft Europas mit der Ukraine steht - oder fällt. (Filip Radunovic, DER STANDARD, 20.5.2014)