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Mahnmale wie dieses in der Nähe einer Brücke in Portland, USA, erinnern an Menschen, die keinen Ausweg mehr im Leben gesehen haben. Psychiater und Selbsthilfegruppen bieten präventiv Hilfe.

Foto: Corbis/Alex Milan Tracy

Wien - Ein Knall, so laut, dass er noch Kilometer entfernt zu hören war. Ein Haus in Trümmern. 14 Verletzte, ein Toter - Selbstmord, wie sich später herausstellen sollte. Der Suizid des 19-Jährigen in der Mariahilfer Straße ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich und besonders extrem, zugrunde liegt ihm aber dasselbe wie all jenen Fällen, die es nicht in die Medien schaffen: existenzielle Verzweiflung, Hilflosigkeit, Depression.

Jährlich nehmen sich rund 1.300 Menschen in Österreich das Leben, mindestens zehnmal so viele versuchen es. Geht man davon aus, dass unter einem Suizid mindestens fünf Personen aus dem näheren Umfeld mitleiden, so macht das mehr als 78.000 direkt oder indirekt Betroffene - jährlich.

"Fast jeder kennt jemanden, der von einem versuchten oder tatsächlich durchgeführten Suizid betroffen ist - dennoch wird das Thema gesellschaftlich und medial nach wie vor tabuisiert", sagt Nestor Kapusta, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien. Zwar gehen die Suizide in Österreich seit 1987 stetig zurück, doch hat sich der Rückgang seit Ausbruch der Wirtschaftskrise in eine Stagnation verwandelt.

Fast immer ist es eine Depression, die in den Suizid führt - nicht selten in Kombination mit anderen psychiatrischen Erkrankungen wie Angststörungen. Laut epidemiologischen Studien erkrankt ein Sechstel bis ein Fünftel aller Menschen im Laufe des Lebens einmal an einer Depression, mehr als die Hälfte davon bleibt allerdings unbehandelt. Bis 2020 sollen Depressionen die Hauptursache für Krankenstände in Europa sein.

Dass heute mehr Depressionen diagnostiziert werden als früher, hat einerseits mit einer gestiegenen Sensitivität und der fortgeschrittenen Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen zu tun, andererseits nehmen ebensolche in den Industrieländern aber auch tatsächlich zu: "Der Zerfall von Großfamilien, unsichere Partnerschaften und Jobs sowie zunehmende Beschleunigung von Arbeit und Leben erhöhen den Druck, der auf jedem Einzelnen lastet", sagt Sozialmediziner Thomas Niederkrotenthaler von der Med-Uni Wien.

Unbedingt ernst nehmen

Von der Depression zu suizidalen Gedanken ist es nicht weit. "Als Erstes findet man eine Einengung der persönlichen Möglichkeiten, die nächste Stufe ist die Frustration und Aggression gegen die eigene Person, gefolgt von Suizidfantasien bis zu konkreten Plänen", sagt Psychiaterin Kristina Ritter vom AKH Wien. Wann muss man sich als Familienmitglied, als Freund nun Sorgen machen? "Im Zweifel einmal zu viel als zu wenig", sagt Kapusta. Demzufolge sei jede Äußerung, auch jeder Gedanken in Richtung Suizid ernst zu nehmen: "Jede Ankündigung ist immer auch ein starker Appell: Ich kann nicht mehr, bitte helft mir."

Deutlich schwerer zu erkennen als direkte Äußerungen sind schleichende Änderungen im Verhalten: sozialer Rückzug, Kontaktabbruch zu Familie und Freunden, Antriebslosigkeit, oft auch eine Zunahme von Alkoholkonsum. "Das Risiko ist umso höher, je konkreter die Pläne und Vorbereitungen für einen Suizidversuch sind, je geringer die Distanzierungsfähigkeit gegenüber den suizidalen Impulsen ist und je geringer die Bereitschaft ist, professionelle Hilfe anzunehmen", sagt Ritter. Besonders gefährdet sind alte, häufig kranke Menschen - vor allem Männer.

Häufig neigen überforderte und hilflose Angehörige dazu, das Problem zu bagatellisieren - nicht selten brauchten sie selbst Hilfe. Für sie gilt: lieber einmal zu oft zum Hörer greifen und sich erkundigen, was man in einer Situation tun kann, als sich mit den Sorgen stundenlang oder tagelang zu quälen. Nicht selten hilft schon der Blick von außen enorm. Auch Selbsthilfegruppen für Angehörige sind ein Baustein in der Unterstützung.

Im Hinblick auf Therapieplätze, psychosoziale Notdienste und andere Anlaufstellen ist in den letzten Jahren zwar viel Positives passiert, doch müsste man auch in Zeiten der Krise Geld in die Hand nehmen, sagt Kapusta: So hätte etwa nur jeder fünfte österreichische Psychiater einen Kassenvertrag, was zu überfüllten Ambulanzen und teilweise wochenlangen Wartezeiten führt.

Stationäre Defizite

Aber auch im stationären Bereich gibt es Defizite: "Um auf den sich abzeichnenden Mangel zu reagieren, wurden in Krankenhäusern viele Akutbetten zugunsten ambulanter Versorgung umgewandelt - das ist nicht immer aufgegangen", sagt Kapusta. Vor allem in Großstädten gebe es einen "enormen Bettendruck" und "frühzeitige Entlassungen".

Darüber hinaus werde nur "ein Drittel" aller Psychotherapiestunden komplett von den Kassen bezahlt. Darunter leiden sozial Schwache, die ohnehin besonders gefährdet sind. Ein weiteres Problem sind regionale Ungleichgewichte. In Teilen der Steiermark ist die Suizidrate mehr als doppelt so hoch wie in Restösterreich, wofür neben niedrigerem Einkommen und oft höherer Arbeitslosigkeit im ländlichen Raum vor allem auch die schlechtere psychosoziale Versorgung verantwortlich ist.

"Hier wären mehr Anreize für Jungmediziner und Psychologen nötig, etwa höhere Tarifsätze für Landärzte. Derzeit übernehmen meist praktische Ärzte die Arbeit des Psychiaters bei überfüllten Warteräumen", sagt Kapusta. Um Landärzte wie auch Pflegepersonal in den Spitälern zu sensibilisieren, läuft in Kürze ein Gatekeeper-Training in ganz Österreich an. Früherkennung ist gerade bei diesem Thema entscheidend - um zu sehen, dass es doch noch einen anderen Ausweg gibt. (Florian Bayer, DER STANDARD, 20.5.2014)