STANDARD: Wie erklären Sie sich die große Diskrepanz zwischen dem Interesse an der EU und dem Einfluss, den sie auf unser Leben hat?
Maurer: Die Macht des EU-Parlaments übersetzt sich nicht in parteipolitische Auseinandersetzungen. Das macht diese Veranstaltung "Europäische Union" sehr technokratisch und lebensfremd, und im Hinblick auf die Auswahl von Parteien sehr unattraktiv. Selbst im Wahlkampf erfährt man nicht wirklich, was denn nun der große Unterschied zwischen einem sozialdemokratischen oder christlich-sozialen Abgeordneten ist. Ein Blick auf die Abstimmungsergebnisse offenbart, dass in den allermeisten Fällen die Parteien - gerade die großen - gemeinsam abstimmen. Bürger würden eigentlich erwarten, dass ein Parlament eine Arena ist, in der gesellschaftliche Konflikte in parteipolitische Auseinandersetzungen übersetzt werden.
STANDARD: Es geht im EU-Parlament also zu harmonisch zu?
Maurer: Ja, das Parlament ist nur da mächtig, wo es auf Augenhöhe mit dem Ministerrat verhandeln kann. Wenn das Parlament mit einer ganz knappen Mehrheit im Ausschuss abstimmt und damit dann in die Verhandlungen mit dem Ministerrat tritt, besteht das Risiko, dass diese Mehrheit umfällt. Das Parlament hat also immer ein Interesse an möglichst starken Mehrheiten, die in der Regel bei 70 bis 80 Prozent liegen. Es ist auf der einen Seite der große Erfolg des EU-Parlaments, dass es als in sich geschlossener Akteur immer mehr Macht akquiriert hat. Auf der anderen Seite geht das auf Kosten der Parteipolitisierung. Wenn man den Spieß umdreht, führt das automatisch zu einer Schwächung des Parlaments. Es ist nicht überraschend, dass die Forderung nach einem Mehr an Politisierung und parteipolitischen Antagonismen vor allem aus Ländern wie Großbritannien kommt.
STANDARD: Was macht die Europaforschung für Sie attraktiv?
Maurer: Wir beobachten und analysieren ja einen nach wie vor einmaligen Prozess der Systembildung jenseits der gewohnten "Ecken und Kanten" des Nationalstaats. Der Integrationsprozess liefert seit über 60 Jahren Impulse für einen massiven Wandel der Parlamentsfunktionen, der sich mit den national eingeübten Analysekategorien kaum erfassen lässt. Dies gilt einerseits für das Europäische Parlament, das sich von einem Konsultationsforum zu einem reichlich instrumentierten Gesetzgebungs- und Kontrollorgan der EU gewandelt hat. Und andererseits stellen wir erhebliche Veränderungen in der Aufgabenauslastung der nationalen Parlamente fest, die sich durch die EU dem Verlust klassischer Parlamentsfunktionen stellen müssen.
STANDARD: Braucht es ein eigenes Forschungsinstrumentarium, um länderübergreifende Aussagen zur EU machen zu können?
Maurer: Mit klassischen Staatstheorien lässt sich das für die EU typische Pendeln zwischen supranationaler und zwischenstaatlicher Politik genauso wenig erklären wie der Mehrebenencharakter des dabei entstehenden Gesamtsystems. Auch mit den Klassikern zur Erforschung der internationalen Beziehungen stößt man an Grenzen, wenn es um die Erklärung supranationaler Politikprozesse geht. Vor diesem Hintergrund habe ich ein eigenständiges Funktionsanalyseraster für parlamentarische Gremien in der EU entwickelt, das ich empirisch im Hinblick auf die tatsächliche Auslastung und den Wandel der Funktionsprofile fortlaufend überprüfe. Nach gut 20 Jahren hat sich dieses Messsystem weitgehend etabliert und wird auch von den Untersuchungsobjekten selbst anerkannt.
STANDARD: Wird einer der fünf EU-Spitzenkandidaten nun tatsächlich auch Kommissionspräsident?
Maurer: Wenn die Wahlbeteiligung so hoch ist wie 2009 und sich die Ergebnisse der beiden Großparteien die Waage halten, dann werden Schulz und Juncker beim Abendessen des Europäischen Rats zwei Tage nach der Wahl im Hinterzimmer mit dabei sein.
Ich gehe davon aus, dass letzten Endes doch wieder eine Art große Koalition gebildet wird. Es wird ja nicht nur über den Kommissionspräsidenten verhandelt, sondern auch über den Ratsvorsitzenden der EU. Es würde mich sehr wundern, wenn Juncker nicht auch für die Nachfolge von Herman van Rompuy ins Spiel gebracht wird. Man darf nicht vergessen: Juncker kandidiert gar nicht für das Europäische Parlament. Sein Herz schlägt für den Europäischen Rat.
STANDARD: Welchen Sinn hat es, EU-Spitzenkandidaten aufzustellen, die in den EU-Staaten nicht gewählt werden können?
Maurer: Diese Brücke muss auch bei einer nationalen Wahl immer geschlagen werden, wenn man eine Partei wählt, obwohl man nur den Spitzenkandidaten gutheißt. Die Spitzenkandidatur auf EU-Ebene bringt aber noch ein anderes Problem mit sich. Jean-Claude Juncker und Martin Schulz agieren im deutschen, französischen und italienischen Sprachraum. In anderen Regionen wie Finnland und Portugal spielen sie kaum eine Rolle.
STANDARD: Wird die Sprachenvielfalt der EU irgendwann zum Verhängnis werden?
Maurer: Das ist Teil unserer europäischen Schwermut, aber wir wollten es nicht anders. Es wäre der falsche Weg, zu sagen, wir einigen uns auf eine Sprache und reden nur mehr Englisch. Es ist ungewiss, wie lange Großbritannien noch Mitglied der Union ist. Sollten wir uns dann wirklich auf diese Sprache verständigen, wenn das Mutterland gar nicht mehr dabei ist?
STANDARD: Wird der Rechtsruck tatsächlich eintreten, der vielerorts prognostiziert wird?
Maurer: Es wird insofern einen Rechtsruck geben, als dass die rechtsradikalen, neofaschistischen und homophoben Parteien eine Fraktion im Europäischen Parlament bilden und versuchen werden, Sitzungen zu stören. Während der Ausschusswochen sieht man sie hingegen nicht. Es ist typisch für die Rechtsextremen, dass sie am normalen politischen Geschäft gar nicht teilnehmen, sondern Straßburg ausschließlich als Bühne nutzen, um ihre Positionen nach außen zu posaunen.
STANDARD: Das EU-Parlament wird in Österreich gemeinhin als Abstellgleis für Politiker verstanden. Hat sich das verändert in den letzten Jahren?
Maurer: Bei der Erasmus-Generation sickert durch, dass es Politikfelder gibt, die nur mehr in der EU verhandelt werden. Stichwort Netzgeneration und Acta-Abkommen. Handelspolitik ist 100 Prozent EU. Für Jüngere spielt das nationale Parlament oftmals keine Rolle mehr. Der Gesetzgebungsprozess in Brüssel lässt auch mehr Personalisierung zu. Es gibt immer einen federführenden Berichterstatter, der dann auch mit dem Ministerrat verhandelt. Das beinhaltet viele Gestaltungsmöglichkeiten, die es national gar nicht gibt, weil man sich ständig an Gremienpolitiken halten muss. (Teresa Eder/DER STANDARD, 21.5.2014)