Wien – Der Fall eines 74 Jahre alten psychisch Kranken, der in der Justizvollzugsanstalt Stein in seiner Zelle praktisch "vergessen" wurde, hat nun Folgen: Drei Beamte wurden vorläufig suspendiert, Justizminister Wolfgang Brandstetter kündigte eine Reform der Strukturen an.

Im Ö1-Morgenjournal vom Donnerstag betonte Brandstetter, dass "bei allem Verständnis für die Schwierigkeit der Aufgabe der Justizwache" so etwas nicht passieren dürfe. Der Fall des  vernachlässigten Insassen sei symptomatisch für erhebliche und schwere Mängel im Maßnahmenvollzug. "So wie es ist, kann es nicht bleiben", sagte der Justizminster.

Bei den Suspendierten handelt es sich nach Angaben der Austria Presse Agentur um den Traktkommandanten, den zuständigen Abteilungsleiter und den Abteilungsleiter-Stellvertreter. Wobei der Abteilungsleiter politisch aktiv ist: Er ist Mitglied der freiheitlichen Exekutivgewerkschaft AUF und steht auf der FPÖ-Liste für die EU-Wahl.

"Vernachlässigung eines Gefangenen"

Die Dienstfreistellung soll bis zur strafrechtlichen Aufarbeitung des Falles dauern. Seit März ermittelt die Staatsanwaltschaft Krems in dem Fall wegen "Vernachlässigung eines Gefangenen", im Falle einer Verurteilung drohen bis zu zwei Jahre Haft. Ob gegen unbekannte Täter oder bestimmte Personen ermittelt wird, blieb zunächst unklar.

Zur Erinnerung: Der Falter berichtete über den Fall des alten Mannes, der seine Haftstrafe für einen Mord bereits verbüßt hatte. In Freiheit kam er dennoch nicht – er wurde schon bei der Verurteilung als "geistig abnorm" eingestuft. Und damit wird man erst entlassen, wenn ein Gutachter das erlaubt.

Verwesungsgeruch als Signal

Dem 74-Jährigen wurden in der Sonderkrankenanstalt Stein vor einiger Zeit an den Füßen Bandagen angelegt, aber offensichtlich nie wieder entfernt. Die Folge: Erst als die Justizwachebeamten Verwesungsgeruch wahrnahmen, sahen sie nach. Die Füße des Mannes waren entzündet, die Zehennägel seit Monaten nicht mehr geschnitten.

Christian Timm von der Vollzugsdirektion gibt sich zerknirscht. "Es ist nicht zu entschuldigen und nicht wegzureden", sagt er. Allerdings betont er auch, der Patient sei "schwierig" gewesen. Er habe praktisch immer medizinische und psychiatrische Behandlung verweigert.

Es seien aber bereits Änderungen angeordnet worden: Der Anstaltsarzt muss künftig mindestens monatlich eine Visite durchführen, ein Psychiater wird alle drei Monate nach bestimmten Patienten schauen.

Vorbild Deutschland

Insgesamt ist Timm mit dem System des Maßnahmenvollzugs unzufrieden. Ihm schweben Zustände wie in Deutschland vor: Dort werden Betroffene in eher klinikartigen Einrichtungen und nicht in Gefängnissen untergebracht. In Österreich kommt dem das "Forensische Zentrum Asten", eine Nebenstelle des Linzer Gefängnisses, noch am nächsten. Derzeit wird dort ausgebaut, um 50 Prozent Patienten mehr unterbringen zu können. Insgesamt ist das System laut Timm aber "nicht zukunftsweisend. Man sollte sich eine Reform des Maßnahmenwesens überlegen."

Das sieht auch der Justizminister so: Es gebe "massive, auch strukturelle Schwächen", sagte Brandstetter am Mittwoch. "Seit ich diese Funktion habe, liegt mir dieser Bereich im Magen." Deshalb ziehe er die ab Herbst geplante Reform des Maßnahmenvollzugs vor. Eine Arbeitsgruppe aus in- und externen Experten soll die Situation begutachten und bewerten. Möglicherweise werde man die Behördenstruktur ändern müssen.

Forderung nach U-Ausschuss

Der Grünen-Justizsprecher Albert Steinhauser fordert einen Untersuchungsausschuss zu den Haftanstalten. Denn: Im Justizministerium wisse man seit Jahren über die desaströsen Zustände im Maßnahmenvollzug.

Zum Beweis führt er Beantwortungen seiner parlamentarischen Anfrage an, die von Brandstetters Vorgängerinnen in den vergangenen Jahren übermittelt worden sind. Der Grundtenor der Antworten: Es gibt ein echtes Problem.

Abzulesen ist dies allein aus der Tatsache, dass die Zahl der untergebrachten geistig abnormen Rechtsbrecher zwischen 1. Juli 2009 und 1. Juli 2012 um 15 Prozent auf 409 Menschen gestiegen ist – die Auslastungen der Anstalten lagen teilweise bei über 100 Prozent. Allerdings: Von den 409 Betroffenen waren auch 182 in psychiatrischen Kliniken untergebracht.

Teure Spitäler, billige Zellen

Warum das bei Kranken, die ihre Strafe verbüßt haben, nicht der Regelfall ist? Es liegt, wie meist, am Geld. Denn in der Justizanstalt Göllersdorf oder dem Forensischen Zentrum Asten kostet ein Gefangener 170 Euro am Tag. Spitäler verrechnen dem Justizministerium dagegen den Tarif für Privatpatienten: 400 Euro waren das 2012 täglich. (Michael Möseneder, DER STANDARD, 22.05.2014)