"Über das Thema Migration werden generelle Probleme moderner Gesellschaften kommuniziert", sagt Laura Wiesböck.

Foto: Olja Alvir

Wie hat Gastarbeit in Österreich (nicht) funktioniert? Was wirkt von der Gastarbeit bis heute nach? Und woher kommt der moderne Leistungsbegriff? Über die politischen Früchte der Gastarbeit und das Vorzeigebeispiel Schweden sprach daStandard.at mit Laura Wiesböck, Soziologin an der Universität Wien.

daStandard.at: Heute ist klar, dass die Umsetzung der ursprünglichen Gastarbeit-Idee nicht optimal verlaufen ist. Das angedachte Rotationssystem hat nicht funktioniert, es sind viel mehr Gastarbeiter in Österreich geblieben als gedacht. Woran liegt das?

Wiesböck: Das hat unterschiedliche Gründe. Einerseits wollten die Arbeitgeber selbst nicht ständig neue Kräfte anlernen. Andererseits haben sich auch die Sparziele der Gastarbeiter wegen hoher Lebenshaltungskosten in Österreich verlangsamt – sie mussten doch mehr und länger arbeiten als geplant.

daStandard.at: Mit welcher Einstellung ist Österreich in das Konzept Gastarbeit gegangen? Was hätte man besser machen können?

Wiesböck: Ein sehr treffendes Zitat kommt von Max Frisch: "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen." Es war auf jeden Fall kurzsichtig. Für nicht prestigeträchtige Arbeiten kurzzeitig in ein Land zu gehen, in dem das Lohnniveau höher ist – das ist generell verbreitet. In den Siebzigern haben etwa österreichische Studenten als Leichenwäscher und bei der Müllabfuhr in Schweden gearbeitet oder sind zum Baumwollpflücken nach Kanada gegangen. Ähnliches ist auch bis heute gängig. Was aber der wichtige Unterschied ist, ist die Perspektivenlosigkeit angeworbener Gastarbeiter. Sie kamen oft aus ländlichen und bildungsfernen Milieus und hätten bei einer Rückkehr wenige Aussichten gehabt. Aus ihrer Perspektive entwickelte sich also ein langfristiger, existenzsichernder Zugang.

Im Nachhinein ist man natürlich immer gescheiter. Aber Integrationsmaßnahmen außerhalb des Mikrokosmos Arbeit wären wichtig gewesen. Etwa in den Bereichen Bildung und Wohnsituation. In Österreich war es beispielsweise so, dass die Arbeitgeber die Wohnsituation organisiert haben, die dann in der Folge sehr prekär war: zu dritt in einem Raum mit Klo am Gang. Da wurde von Anfang an eine Exklusion oder Unsichtbarmachung der Gastarbeit betrieben, was in Schweden ganz anders geregelt wurde.

daStandard.at: Da wären wir also bei den Wurzeln des Integrationsvorzeigelands Schweden.

Wiesböck: Schweden hat ja auch Lohnarbeiter rekrutiert. Das Land hat aber mit einem stärkeren integrativen Ansatz gearbeitet. Erstens wurde prinzipiell davon ausgegangen, dass Arbeiter in Schweden bleiben würden. Daher wurden kostenlose Schwedischkurse angeboten. Weiters wurde Kindern ermöglicht, ihre Erstsprache in der Schule zu lernen. Nach dem Aufnahmestopp in den Siebzigern wurde die Erwachsenenbildung ausgebaut. Schon drei Jahre nach dem Aufnahmestopp in Schweden wurde Gastarbeitern das Wahlrecht auf kommunaler Ebene gewährt.

daStandard.at: Diesen abrupten Aufnahmestopp könnte man heute vielleicht hämisch "Anlassgesetzgebung" nennen. Inwiefern hat diese Arbeitsmigration die allgemeine Gesetzgebung und Migrationspolitik Österreichs beeinflusst?

Wiesböck: Das ist meines Erachtens eine wichtige Frage. Wenn wir heute von Drittstaatsangehörigen sprechen – wozu Personen aus der Türkei zählen –, erkennt man schnell eine Verschränkung von integrationspolitischen und migrationspolitischen Programmen. Die Migrantin wird als Akteurin gesehen, die für die Aufnahme im Land individuelle Leistungen erbringen und sich anpassen muss. Der Aufenthalt im Staat wurde direkt an Leistungsanforderungen gekoppelt.

daStandard.at: Um welche Leistungen handelt es sich hier?

Wiesböck: Manche Leistungen müssen heute im Voraus erbracht werden, sprachliche beispielsweise. Nehmen wir an, die deutsche Sprache ist zentral für die Integration in Österreich, und Integration ist das oberste Ziel: Dann ist es nicht ersichtlich, warum nur spezifische Gruppen diese Leistung erbringen müssen. Wieso müssen Franzosen und Italiener nicht Deutsch lernen?

daStandard.at: Das gilt aber nicht für "hochqualifizierte Arbeitnehmer" und ihre Familien.

Wiesböck: Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz hat in dieser Hinsicht eine öffentlich akzeptierte Sprachdiskriminierung festgestellt: Wenn der Vater am Spielplatz mit seinem Kind Englisch spricht beziehungsweise das Kind auf Englisch erzogen wird, handelt es sich um ein Vorzeigebeispiel. Bei Türkisch sprechenden Familien heißt das Integrationsverweigerung.

daStandard.at: Es gibt die Sorge, alte und neue Migranten könnten sich in der sozialen Hängematte zurücklehnen und eine Last für den Staat werden. Warum? Dass zum Beispiel Gastarbeiter mehr als "fleißig" arbeiten, ist ein historisches Faktum. Sie haben den Wohlfahrtsstaat mit aufgebaut.

Wiesböck: Der Wohlfahrtsstaat hat – besonders in seiner aktuellen Krise – ein Interesse daran, sein System aufrechtzuerhalten, und möchte daher den Zugang regeln und begrenzen. Der Staat ist offen für Migranten, die als besonders leistungsfähig gelten. Die Zuwanderung aus humanitären Gründen, Familiennachzug oder Heiratsmigration werden jedoch beschränkt.

daStandard.at: Kann man Arbeit und Leben auf längere Sicht trennen, wie im Gastarbeiterkonzept vorgesehen?

Wiesböck: Vom Ökonomen Michael J. Piore gibt es dazu eine Theorie. Das sekundäre Arbeitsmarktsegment – jenes, in dem Gastarbeit stattfand – ist gekennzeichnet durch geringes Sozialprestige, niedrige Sicherheit und schlechte Entlohnung. Dieses Segment ist für ansässige Lohnarbeiter unattraktiv, da sie nicht nur an Existenzsicherung interessiert sind, sondern auch daran, ihren sozialen Status zu halten oder zu erhöhen. Für temporär angeworbene Migranten hat Arbeit keine identitätsstiftende Funktion, weshalb die soziale Rolle von der wirtschaftlichen Rolle getrennt wird.

Das österreichische Bevölkerungssegment, das dem sekundären Segment zugeordnet wäre, erlebte eine soziale Aufwärtsbewegung ohne eigenes Zutun. Hoffmann-Nowotny hat das "ethnische Unterschichtung" genannt. Sie sind wegen der Gastarbeit aufgestiegen, ohne etwas dafür gemacht zu haben.

daStandard.at: Eine Win-win-Situation also?

Wiesböck: Eine Win-win-win-Situation aus rein ökonomischer Perspektive. In Österreich werden Arbeitsmarktdefizite ausgeglichen, und die Herkunftsländer profitieren vom Geld, das zurückgeschickt wird. Wenn nun aber die Gastarbeiter ansässig werden, bröckelt diese Trennung der sozialen und wirtschaftlichen Rolle. Es kommen Ansprüche an gesellschaftliche Teilhabe hervor. Das initiiert eine Konflikt- und Konkurrenzsituation mit der österreichischen Bevölkerung, die dem gleichen Arbeitssegment zuzuordnen wäre.

Das resultiert in Statusängsten, Verdrängungsängsten und Machtverlustängsten, die politisch emotionalisiert und instrumentalisiert werden. Wenn die Migrantin arbeitslos ist, ist sie Sozialschmarotzerin. Wenn sie am Arbeitsmarkt beschäftigt ist, nimmt sie Jobs weg. Und wenn sie selbstständig ist, dann spricht man von expansivem Übernahmewillen. Im populistischen Diskurs werden Definitionen von Integration bewusst schwammig gehalten, um eine große Bandbreite negativer Klassifikationen möglich zu machen. Man kleidet nun verpasste staatliche Integrationsangebote in den Mantel kultureller Differenzen: Migranten hätten weniger Leistungsethik und weniger Interesse an Bildung.

daStandard.at: Inwiefern wirken die Erfahrungen mit der Gastarbeit heute politisch nach?

Wiesböck: Der Soziologe Michael Bommes meinte, dass durch Integrationsdiskurse Probleme und Werte angesprochen werden. Aufenthalt und Staatsbürgerschaft werden in Verbindung gebracht mit Leistungsvorstellungen. Über den Migrationsdiskurs wird allen Staatsbürgern gleichermaßen kommuniziert, dass im Wohlfahrtsstaat Leistung zu erbringen ist. Das ist im Kontext der allgemeinen Krise des Wohlfahrtsstaates zu sehen. Über das Thema Migration werden also generelle Probleme moderner Gesellschaften kommuniziert. Die Migrationsdebatte hat eine höchst symbolische Wirkung. (Olja Alvir, daStandard.at, 22.5.2014)