Ankara - Der "Spiegel"-Reporter Hasnain Kazim hat nach einer Vielzahl von Drohungen vorerst die Türkei verlassen. Er sei nicht von seiner Heimatredaktion abgezogen worden, erläuterte Kazim am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP in einer E-Mail. Er habe sich vielmehr aus eigenem Entschluss für ein paar Tage aus Istanbul entfernt, um "auf der sicheren Seite zu sein".

Kazim gab an, er habe nach einem auf "Spiegel Online" veröffentlichten Bericht über Proteste gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Grubenunglück von Soma per E-Mail, Facebook und Twitter mehr als 10.000 Drohungen erhalten, darunter auch Hunderte Morddrohungen.

Der Sturm der Entrüstung wurde durch einen Artikel Kazims vom 14. Mai ausgelöst, in dem in der Überschrift der Ausspruch "Scher dich zum Teufel, Erdogan!" eines überlebenden Grubenarbeiters zitiert wurde. Die Anhänger von Erdogans regierender Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unterschieden nicht zwischen der Meinungsäußerung des Grubenarbeiters und der Redaktion, führte Kazim aus. "Sie sahen nicht oder wollten nicht sehen, dass dies ein Zitat war, sondern gingen davon aus, dass ich und der 'Spiegel' das gesagt haben."

Türkische Übersetzung

"Verschwinde aus meinem Land, du dreckiges Schwein!", lautete eine der Twitter-Nachrichten an Kazim. "Spiegel Online" stellte seine Reportage inzwischen in türkischer Übersetzung auf die Homepage. Bei dem Grubenunglück in Soma, dem schwersten in der türkischen Geschichte, waren am 13. Mai 301 Bergleute ums Leben gekommen.

Erdogan besuchte Soma am Tag darauf und brachte viele Bewohner gegen sich auf, indem er Grubenunglücke als unvermeidlich bezeichnete: "So etwas passiert eben", sagte Erdogan. Daraufhin wurde seine Wagenkolonne von wütenden Demonstranten attackiert, die den Rücktritt des Ministerpräsidenten forderten.

Kazim kündigte an, er werde "in einigen Tagen" wieder in Istanbul sein, um seine Arbeit fortzusetzen. Er berichtet seit August 2013 aus der westtürkischen Millionenmetropole. (APA, 21.5.2014)