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Der Mensch agiert weniger rational als man gerne glaubt.

Foto: EPA/Berg

Peter Kenning forscht auf dem Gebiet Consumer Neuroscience.  Dabei geht es darum, herauszufinden, was sich im menschlichen Gehirn abspielt.

derStandard.at: Herr Kenning, Sie sind auf Einladung von Marketing-Experten in Wien, um das Thema Neuromarketing zu erklären. Der Kunde ist ja eine sehr gut erforschte Spezies. Bietet uns die Neuroökonomie bessere oder andere Erkenntnisse als die Verhaltensforscher es mit ihrer empirischen Forschung können?

Kenning: Wir sehen die Welt oft so, wie wir sie uns konstruieren. Wenn man vor 700 Jahren die Menschen gefragt hätte, ob sie Forschungsbedarf im Bereich der Astronomie sehen, hätte man wohl gesagt: Nein, eigentlich nicht. Unsere Modelle erklären bis auf wenige Ausnahmen gut, was wir sehen können. Dann hat jemand das Teleskop erfunden und festgestellt, dass es doch ein paar Dinge gibt, die man nicht erklären kann. Und dann kommt die wissenschaftliche Neugier ins Spiel. Man möchte wissen, warum dies so ist und stellt plötzlich fest, dass die alten Modelle falsch waren. So ähnlich ist das hier auch. Wir haben heute mit den bildgebenden Verfahren neue Instrumente  um menschliches Verhalten aus einer ganz anderen Perspektive  beobachten zu können. Und es kann sein, dass diese neue Perspektive uns Dinge sehen lässt,  die zu einem Paradigmenwechsel führen.

derStandard.at: Wohin könnte der führen?

Kenning: Ich glaube, dass wir in den Sozialwissenschaften derzeit eine naturalistische Wende beobachten können. Ob sich das als Paradigma durchsetzen wird, kann ich nicht sagen. Es könnte aber sein, dass das Käuferverhalten in der Zukunft mit neurobiologischen Begriffen erklärt wird. Es könnte dann heißen: Der Belohnungswert unserer Marke im Striatum ist zu gering. Heute heißt es: Die Kundenzufriedenheit ist zu gering.

derStandard.at: Was würden Sie etwa im Kernspintomografen sehen, wenn ich zum Beispiel vollends begeistert bin von einem Auto, dass ich eben in der Werbung sehe?

Kenning: Es geht eher darum: Wenn Sie einen Menschen, der noch nie darüber nachgedacht hat, fragen, warum er eine Marke attraktiv findet, sagt er vielleicht: Ich finde die Farbe schön, einfach um eine sinnvolle Antwort zu geben. Das nennt man Kulissenmotiv. Oder wenn man fragt, wie er zu Greenpeace steht. Dann sagt er vielleicht, das ist eine ganz tolle Sache. Das ist eine sozial erwünschte Antwort, die nicht immer mit dem tatsächlichen Verhalten übereinstimmen muss. Wir haben also Grund zu glauben, dass Befragungen die Realität nicht immer zutreffend beschreiben. Da Unternehmen aber zuverlässige Informationen über ihre Kunden benötigen um Entscheidungen richtig treffen zu können, gibt es einen Bedarf an ergänzenden Methoden. Und hier kommen die neurowissenschaftlichen Methoden ins Spiel, die einen Einblick in das zentrale Kaufentscheidungsorgan, das Gehirn, ermöglichen.

derStandard.at: Aber ist es nicht eher so, dass viele Konsumenten der Werbung und des Marketings überdrüssig sind, sie gar nicht mehr wahrnehmen?

Kenning: Man kann nicht erwarten, dass Menschen, wenn sie befragt werden, auf alles eine richtige Antwort haben. Denn wenn Werbung grundsätzlich nicht funktionieren würde, gäben Unternehmen weltweit nicht etwa 500 Milliarden US-Dollar jährlich dafür aus. Wenn ich Ihnen zum Beispiel eine Werbung mit George Clooney zeige, der einen bestimmten Kaffee trinkt, dann sagen Sie vielleicht, dass sie Werbung insgesamt nicht gut finden. Aber beim nächsten Mal, wenn Sie beim Regal stehen, erinnert sich Ihr Gehirn doch an die Werbung und Sie nehmen den beworbenen Kaffee doch, weil es so ein gutes Gefühl war, als Sie die Markenwerbung gesehen haben. Wenn man Sie nachher fragt, warum Sie diesen Kaffee gekauft haben, sagen Sie, weil er Ihnen gut schmeckt. Natürlich funktioniert Werbung. Permanent.

derStandard.at: Wir schätzen uns kritischer ein, als wir sind?

Kenning: Unsere Kontroll- und Exekutionsfunktionen sind relativ beschränkt. Die affektiven unbewussten Prozesse hingegen bestimmen einen Großteil unseres Verhaltens und auf dieser Ebene funktioniert Werbung.

derStandard.at: Wo könnte man diese Erkenntnisse noch einsetzen?

Kenning: Eine ganz hohe Bedeutung hat das beim Thema Innovation. Solche sprachlich zu beschreiben, dazu sind Menschen oft gar nicht in der Lage. Innovationen sind aber in vielen Branchen ein Motor für die Unternehmen. Mit Hilfe der Neurowissenschaften kann man bessere Verfahren entwickeln, die eine bessere Vorhersage darüber erlauben, wie Innovationen akzeptiert werden. Wenn man zum Beispiel über bestimmte Designelemente im Automobil nachdenkt, kann man sagen, ich finde so ein Auto schön. Aber ich weiß nicht genau: Ist es der Rückspiegel, die Heckklappe, die Felgen oder vielleicht die Farbe? Wenn Sie die Leute dann fragen, dann sagen Sie vielleicht, dass die Heckklappe schön ist. Aber der Spiegel, den könnte man anders machen. Dann ändern Sie den Spiegel, was zur Folge hat, dass das Auto insgesamt nicht mehr stimmig ist. Da kommt man also mit den etablierten Verfahren  nicht weiter. Neurowissenschaftliche Fragen gewinnen darüber hinaus im Zuge der Digitalisierung rasant an Bedeutung, weil ständig etwas Neues erfunden wird und die Menschen hier noch nicht sprachfähig sind.

derStandard.at: Andrerseits profitieren wir ja auch von Produkten, von denen nie jemand dachte, dass sie relevant werden würden, wie zum Beispiel der unerwartete Erfolg der SMS zeigte?

Kenning: So etwas hätte man vielleicht mit den Neurowissenschaften früher herausfinden können. Da gibt es aber das Problem so genannter Netzgüter. Ein solches Gut ist nur dann wertvoll, wenn es viele gibt, die es ebenfalls nutzen. Der erwartete Nutzen dieser Technologie ist relativ abhängig davon, wie andere sich entscheiden werden. Im Kernspintomografen beobachten wir aber in der Regel das Individualverhalten. Deswegen ist die Entwicklung  solcher Netzgüter im Markt relativ schwer zu prognostizieren.

derStandard.at: Wer außer Unternehmen könnte noch Interesse an neuen Instrumenten haben?

Kenning: Ich sehe im verbraucherpolitischen Bereich Möglichkeiten. Wenn wir etwa über Kaufsucht nachdenken. Aus der Sicht des Marketings ist es zunächst einmal gut, wenn ich eine hohe Kundenbindung habe und die Kunden erst einmal viel Geld ausgeben. Wenn sie aber Dinge kaufen, die sie nicht mehr bezahlen können, dann wird es sowohl aus einer betriebswirtschaftlichen als auch aus einer verbraucherpolitischen Perspektive relevant, Kaufentscheidungen besser zu verstehen und darauf aufbauend vielleicht Interventionen abzuleiten.

derStandard.at: Der Kunde selbst könnte sich vielleicht auch besser einschätzen lernen?

Kenning: Ja und vielleicht Maßnahmen entwickeln, wie er unkontrollierte Kaufentscheidungen besser verhindern kann. Der erste Ratschlag bei Kaufsüchtigen ist, dass sie ihre Kreditkarten abgeben, weil sie sich im Moment der Kaufentscheidung nicht kontrollieren können. Es gibt aber auch zum Beispiel von der Firma Philips ein Instrument namens Rationalizer für Daytrader. Da wird mit Elektroden am Finger der Hautwiderstand gemessen. Wenn ich emotional erregt bin, bekomme ich feuchte Hände, die elektrische Leitfähigkeit der Haut verändert sich und der Rationalizer zeigt dies als Biofeedback an.

derStandard.at: Das heißt ich bekomme quasi einen Assistenten.

Kenning: Im Automobilbereich haben wir solche Assistenzsystem ständig. Weil ich den Kofferraum beim Einparken nicht sehen kann, piept etwas, ich kann und darf das Telefon als Fahrer nicht in den Händen halten, also habe ich eine Schnittstelle, um zu telefonieren. Ich kenne den Weg nicht, also informiert mich mein Navigationssystem darüber. Im Lebensmittelbereich aber haben wir keine Assistenzsysteme, im Gesundheitssystem auch nicht, ebenso wenig dort wo finanzielle Entscheidungen getroffen werden oder beim Energieverbrauch. Wenn ich aus dem Haus gehe, gibt es keine Information darüber, ob im Haus diese oder jene Lampe noch brennt, oder dass der Kühlschrank jetzt runtergefahren werden könnte. Das beruht darauf, dass wir in vielen Politikfeldern noch immer das Leitbild vom mündigen Verbraucher haben. Die Verbraucherpolitik rückt aber zusehends  davon ab. Man geht eher in Richtung Ausdifferenzierung und sagt es gibt verletzlichere Verbraucher mit höherer Schutzbedürftigkeit, verantwortungsvolle, die so etwas wie Nährwerttabellen lesen und es gibt viele, die sich im Prinzip darauf verlassen, dass jemand anders dafür sorgt, dass nichts Schlimmes im Essen drinnen ist.

derStandard.at: Machen uns solche Assistenzsysteme nicht auch in gewisser Weise dümmer? Ich denke an die wichtigen Telefonnummern, die man in Zeiten vor dem Mobiltelefon aus dem Gedächtnis abrufen konnte. Heute ist der Durchschnittsmensch ohne sein Mobiltelefon praktisch verloren.

Kenning: Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Studien die belegen, dass die zweite Seite der Digitalisierung und Technologisierung eine Art Entfähigung ist. Menschen, die regelmäßig Google benützen, haben schlechter ausgebildete Memory Systems, das heißt die können sich weniger merken. (Regina Bruckner, derStandard.at, 22.5.2014)