All jenen, die öffentlich gegen die Verwendung von Manfred Hausmanns Text "Die Schnecke" bei der heurigen (probeweisen) Zentralmatura aufgetreten sind, gebührt zuerst einmal Dank. Damit haben sie eine notwendige Debatte losgetreten: Wie sich nun herausstellt, war der Text als "didaktisches Brauchtum" jahrzehntelang in den Lesebüchern vertreten und auch schon mehrmals Thema von Maturaarbeiten.

Aufgabe der Zentralmatura

Die Zentralmatura hat hier also eine Tradition erst sichtbar und angreifbar gemacht, mit der man sich kritisch auseinandersetzen muss. Schwer enttäuschend ist aber die Tatsache, dass die Zentralmatura diese Tradition fortsetzt, statt mit ihr zu brechen. Denn das wäre ja ihre eigentliche Aufgabe.

Das Problem lässt sich allerdings nicht auf den – umstrittenen – nationalsozialistischen Hintergrund  des Autors reduzieren. Die mediale Betonung dieses Hinweises erschwert eher eine sachliche Debatte. Abgesehen davon, dass man Hausmann keineswegs so einfach als einen den Nazis nahestehenden Dichter einordnen kann (es gibt Fakten, die das Gegenteil zu beweisen scheinen), ist auch die Kritik, dass der Text als Verharmlosung des Naziterrors und des Holocaust verstanden werden könne, nicht unbedingt die nächstliegende Interpretation.

Historischer Kontext

Wenn nun VertreterInnen des BIFIE selbstkritisch meinen, man hätte eine Verdeutlichung des historischen Kontexts und einen Hinweis über den problematischen biografischen Hintergrund des Autors mitliefern sollen, fragt sich, ob das tatsächlich zu einem besseren Verständnis des Textes und dessen schillernder Bedeutungspotenziale beigetragen hätte.

Eine solche Notiz hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahrnehmung ganz auf die Biografie des Autors gelenkt und den Blick auf den literarischen Text verstellt. Damit wären die KandidatInnen statt zu einer selbstständigen Auseinandersetzung mit der Thematik und Ästhetik des Textes wohl zu einer "ideologiekritischen“ Pflichtübung angeleitet worden. Emanzipatorisches Lernen mit und anhand von Literatur sieht anders aus.

NS-Vorwurf

Abgesehen davon trifft der NS-Vorwurf meiner Meinung nach auch nicht den Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass dieser mediokre Text als Maturathema zweifellos ungeeignet ist. Und zwar nicht deswegen, weil hier eine Nazi-Ideologie zum Ausdruck käme. Tatsächlich wirft dieser Text existenzielle Fragen – die Macht des Menschen seiner kreatürlichen Umwelt gegenüber – in ungeschönter Darstellung auf (der Mann, der die Schnecke bewundert, bringt sie dennoch um), doch durch seine obskurantische, religiös-mystische Sprache deckt er sie auch gleich wieder zu.

Dieses Gemisch im Stress einer Prüfungssituation zu entwirren dürfte nicht nur MaturantInnen überfordern. Natürlich ließe sich diese mystifizierende Darstellung von Fragen menschlicher Gewalt gegenüber der "Natur" in einer Unterrichtsstunde mit großem Gewinn anhand dieses Textes bearbeiten. Und zwar nicht aufgrund seiner Qualitäten, sondern gerade aufgrund seiner Schwächen.

Und nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass manches von Hausmanns Ideologie in heutigen ökologischen Debatten noch immer aufzufinden ist ... Aber nicht alles, was man im Unterricht machen kann, eignet sich auch für die Reifeprüfung.

Strukturelle Maßnahmen vonnöten

Gegen den Fehler, dass so ein Text vom BIFIE für geeignet befunden wurde, ist es allerdings mit einem Köpferollen an der Spitze nicht getan. Die wichtigste Frage ist vielmehr die nach strukturellen Maßnahmen, um solchen Pannen vorzubeugen. In diesem Zusammenhang scheinen mir die folgenden drei Punkte von besonderer Relevanz zu sein:

Es war ein Fehler, dass das BIFIE die Zusammenarbeit mit der universitären Deutschdidaktik, die in der Vorbereitungsphase (trotz unvermeidlicher Reibungspunkte) durchaus funktionierte, beendet hat, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Eine permanente wissenschaftliche Begleitung, in welcher neuen Form auch immer, erscheint unerlässlich. Die bisherige Ausbildung der "Item-WriterInnen“, das heißt also der Lehrkräfte, die die Aufgaben formulieren und die Texte aussuchen, ist viel zu oberflächlich, und vor allem auf technische Fragen konzentriert.

Es bedarf einer intensiven Fortbildung

Es bedarf vor allem einer intensiven literaturdidaktischen Fortbildung, da die literarischen Aufgaben wohl am schwierigsten adäquat zu stellen sind. Problematisch erscheint auch, dass der Blick der Item-WriterInnen vor allem auf das Thema, und nicht auf die literarische Qualität des Textes, gerichtet zu sein scheint. Diese eingeschränkte Blickrichtung wird wohl durch die "Themenklammer" nahegelegt, die eine Verbindung zwischen den beiden Teilaufgaben der Deutschmatura herstellen soll.

Man muss wohl darüber nachdenken, ob man auf diese Klammer vielleicht bei literarischen Themen verzichten sollte. Auf jeden Fall sollten ästhetische Gesichtspunkte bei der Literaturauswahl im Vordergrund stehen.

Schuld ist nicht das BIFIE allein

Dennoch ist es nicht fair, alle Schuld auf das BIFIE abzuwälzen, wie das gegenwärtig geschieht. Das BIFIE ist sehr starkem politischen Einfluss ausgesetzt. So wurde es (aus Einsparungsgründen? aus Kurzsichtigkeit?) dazu gedrängt, die Zusammenarbeit mit der universitären Fachdidaktik einzuschränken, um alles in Eigenregie zu erledigen.

Es stimmt übrigens auch nicht, dass die Rolle der Literatur durch die Zentralmatura reduziert wurde, wie nun bisweilen behauptet wird. Im Gegenteil, erstmals sind literarische Aufgaben nun auch verpflichtend für alle SchülerInnen der BHS (Handelsakademien, Höhere Technische Lehranstalten, Humanberufliche Schulen) vorgesehen. Wenn man bedenkt, dass diese Schultypen über 60 Prozent der MaturantInnen stellen, sieht man, dass die Zentralmatura de facto sogar eine Aufwertung literarischer Aufgaben bewirkt hat.

Zentralmatura als Chance

Die zentralisierte Reifeprüfung bietet, wie ich meine, die große Chance, über Fragen der Bildung breit und demokratisch zu diskutieren und damit permanente Reformen anzustoßen. Wie aber kommen wir zu einer demokratischen Diskussionskultur? Nicht, indem man jeden Fehler in der Probephase zum Anlass nimmt, eine Abschaffung der Zentralmatura zu fordern. Das würde nur vieles wieder unter den Teppich kehren.

Auch nicht dadurch, dass die Schulbürokratie behauptet, es sei ohnehin alles in Ordnung und niemand habe sich "einzumischen“. Es bedarf vielmehr eines respektvollen Umgangs von allen Seiten und wohl auch ein neues Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Ich konnte gerade vorige Woche bei einer Bildungskonferenz in Finnland eine solche respektvolle Diskussionskultur erleben.

MinisterInnen und Schulbehörden waren hier durchaus in der Lage, einen demokratischen Dialog mit Lehrkräften und Wissenschaft zu führen. Diese Kultur ist wohl einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren des finnischen Bildungswesens. Davon wäre gerade jetzt hierzulande eine Menge zu lernen. (Werner Wintersteiner, Leserkommentar, derStandard.at, 22.5.2014)