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Foto: AP / Sergei Grits

Der dünne Mann mit den fröhlichen Augen zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette, räuspert sich und sagt schließlich: "Willkommen in Minsk. Willkommen in der Sonnenstadt der Träume." Es ist nicht besonders warm an diesem Tag. Ein graues Meer aus dichten Wolken schwimmt über der weißrussischen Hauptstadt. Sonnenstadt? Sonnenstadt der Träume? Hat man da richtig gehört?

Der Blick fokussiert Artur Klinau, der gerade in erhabenem Ton den merkwürdigen Satz gesprochen hat, und sucht nach einem Zeichen in seinem Gesicht. Eines, das bedeutet: "War nur ein Scherz." Aber nichts. Das Gesicht des Mannes bleibt ernst. Und dann sagt er: "Es mag für Sie komisch klingen. Aber meine Heimatstadt Minsk ist tatsächlich die Sonnenstadt der Träume. Es ist ein Ort, den es eigentlich nicht gibt. Ein Utopia."

Klingt nach vier Konsonanten

Minsk gilt weder als lebenslustige oder multikulturelle noch als architektonisch besonders bezaubernde Metropole. Selbst Leute, die noch nie dort waren, scheinen zu wissen, dass die Zwei-Millionen-Stadt nur ein hässlicher Ort sein kann. Wer vier Konsonanten im Namen trägt, die auch von einem kurzen "i" nicht zum Klingen gebracht werden, hat keine guten Karten: Minsk klingt nach Osten, Sozialismus, nach Plattenbau, nach Strenge und Kühle.

Und genau hier setzt der 1965 geborene Performance- und Foto-Künstler, Maler und Schriftsteller Artur Klinau an. Er kontert diese Assoziationen mit dem wagemutigen Projekt "Minsk, Sonnenstadt der Träume", das mit einem Fotoband begonnen hat und schließlich zu einem kleinen Buch wurde, das die Leser mit anderen Augen auf diese unbekannte Stadt Osteuropas schauen lässt.

Ein bedeutender Teil Europas

Es sind Seiten, die dem Leser auch Erklärungsversuche anbieten, warum Weißrussland ein bedeutender Teil Europas ist. Klinaus Buch unternimmt einen virtuosen Ritt durch die komplexe, wilde Geschichte des weißrussischen Kulturraums. Dort treffen Einflüsse aus Ost und West aufeinander, die Orthodoxie auf den Katholizismus und das Judentum; hier hinterließen das Magdeburger Stadtrecht, Barock, Renaissance und Reformation sowie das Großfürstentum Litauen, das größte Staatsgebilde im Spätmittelalter, ebenso Spuren wie die ersten demokratischen Gehversuche des polnisch-litauischen Doppelstaates. Zuletzt haben autokratische Strukturen, im Zarenreich und in der Sowjetunion, das heutige Belarus geprägt. Und gerade wegen der jüngsten Geschichte erscheint Weißrussland vielen wie ein Freilichtmuseum des Sozialismus.

"Weil wir im Fadenkreuz von West und Ost auftauchten, waren wir häufig Ziel von Aggressionen durch beide Seiten", sagt Klinau. Kriege der Moskowiter, der Franzosen oder der Nazis verwüsteten den weißrussischen Kulturraum und dessen Architekturen. Klinau ist sich dennoch sicher, dass seine Heimatstadt und sein Land lohnende Reiseziele für Touristen sind, die Europa als Ganzes verstehen wollen. "Wenn man es richtig anstellt, könnte man sogar viel Geld mit der Idee verdienen." Bis Touristenmassen die Stadt überrennen, wird aber noch viel Zeit vergehen. Erst einmal sind es vereinzelte Führungen, die Klinau durch seine Sonnenstadt anbietet - und das nur auf Weißrussisch.

Das Wissen ausgetrieben

Ganz im Gegensatz zu Alexander Lukaschenko, dem Präsidenten des Landes, der vor allem auf die sowjetische Interpretation der weißrussischen Geschichte setzt, hängt Klinau auch an den westlichen und mitteleuropäischen Traditionen seines Landes. Allerdings hätten Zarenreich und Sowjetunion dazu geführt, dass vielen seiner Landsleute das Wissen um das Erbe aus dem polnisch-litauischen Doppelstaat ausgetrieben wurde. Dennoch ist für ihn klar: "Für uns gibt es keine Alternative zu Europa, und ich glaube, die Mehrheit meiner Landsleute wäre sogar bereit, sich in diesem Sinne umzustellen." Wenn Klinau von Europa spricht, meint er die EU.

Der Autor als Kunstpartisan

Der Künstler stapft voran auf den breiten Minsker Gehsteigen und lächelt schelmisch. Dieser Mann ist ein Zauberer, der neue Wirklichkeiten aus alten Mythen seines Landes gewinnt - und dadurch auch einer der bekanntesten Weißrussen, die in Opposition zu Lukaschenko, dem "letzten Diktator Europas", stehen. Partisanen spielen in den Mythen der Weißrussen eine große Rolle, Klinau kann man als Kunstpartisan bezeichnen.

In einer repressiven Kulturlandschaft versteht er es, funkelnde Ideen mit subversiven Mitteln auszudrücken. Für eines seiner Projekte hat er einen alten Koffer hergenommen und ihn mit Einmachgläsern voll Sauerkraut gefüllt. Darauf stand: "Karl Marx. Das Kapital." Einen anderen Koffer hat er "Lenins Werke" genannt. Darin: Molotowcocktails.

Klinau nähert sich dem Hauptbahnhof, einem modernen Monstrum aus Glas und Marmor. Davor ragen zwei herrschaftliche Türme auf, mit zinnenhaften Aufbauten, Statuen und Schmuckelementen verziert. Das Wappen der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik schmückt noch immer den einen Turm, eine Uhr den anderen. "Das ist das Tor zu Minsk", erklärt Klinau. "Es sollte dem Besucher zeigen, dass er ein Land betritt, in dem der Proletarier König ist. Minsk sollte Musterstadt des Sozialismus werden. Ein Ort, wo das Glück in klassizistischen, fast barocken Bauten zu Hause ist."

Könige in Ocker, Blau und Grün

Entlang der großen Boulevards reihen sich die Stalin-Bauten dutzendweise. Vor allem an der Lebensader der Stadt, dem Prospekt der Unabhängigkeit, der sich elf Kilometer durch Minsk zieht, ragen ockerfarbene, bläuliche und grünliche Gebäude auf, in denen sich der gute Kommunist wie ein König vorkommen sollte. Nachts, wenn die Gebäude angestrahlt sind, wirken sie wie die Kulisse für einen monumentalen Film.

"Nirgendwo in Europa gibt es noch eine derartige Konzentration von sozialistischen Prachtbauten - und die gehören eben auch zum europäischen Erbe", sagt Klinau. Er zeigt auf einen gewaltigen Bau mit Säulen und Turm: die Zentrale des weißrussischen Sicherheitsdienstes, die noch wie zu Sowjetzeiten KGB heißt. Ein paar Meter weiter steht das Gum, das zentrale Staatskaufhaus, dann folgt der Oktoberplatz, auf dem der Palast der Republik, ein graues mausoleumähnliches Gebäude, dominiert. Der Künstler engagiert sich intensiv dafür, dass dieses architektonische Ensemble erhalten bleibt.

Ein neuer Klotz im Gorki-Park

In der Ferne sieht man einen Obelisken in den Himmel ragen: ein Denkmal, das an die "Heldenstadt" und ihre Opfer im "Großen Vaterländischen Krieg" erinnert. Rechts daneben ragt ein schwerer, aber viel neuerer Klotz aus dem Gorki-Park: das Kempinski-Hotel. Es wurde extra für die Eishockey-WM in Minskgebaut, die morgen, am 25. Mai, zu Ende geht. "Jetzt ist dieses einzigartige Architekturensemble zerstört", schimpft Klinau. Tatsächlich kamen seit 1989 aber überall am zentralen Boulevard Neubauten dazu. An der 2006 eröffneten weißrussischen Nationalbibliothek etwa ist für Laien kaum ersichtlich, dass es sich dabei nicht um eine originale Architektur aus der Sowjetzeit handelt.

In seinem Buch verknüpft der Autor die Idee der Sonnenstadt mit der realen Minsker Geschichte der Zerstörung: "Nur auf dem Boden des Verderbens und des Leids können Menschen den Willen entwickeln, sich in eine Utopie zu träumen", meint er. Die Stadt, die in ihrer fast 1000-jährigen Geschichte immer wieder dem Erdboden gleichgemacht wurde, hat ihre größte Katastrophe im Zweiten Weltkrieg erlebt. Die Stadt wurde erst von den Nazis, die sie zwischen 1941 und 1944 besetzt hatten, und dann mit dem Einmarsch der Roten Armee fast völlig zerstört.

Trauer um die Sowjetunion

Die sozialistischen Stadtplaner konnten so ein neues Minsk errichten, in dem fast alles Architektonische daran erinnern sollte, wer den Weißrussen das neue Glück versprach: der sowjetische Kommunismus. Für das Ende der Sowjetunion wurden dann tatsächlich nirgendwo sonst so viele Tränen vergossen wie in Weißrussland.

Irgendwann biegt Klinau durch ein Tor in einen der typischen Hinterhöfe ab. Die Rückseiten der Prachtbauten wirken schon weniger herrschaftlich: Nackte Wände, lange nicht gestrichen, rostige Geländer, die Verzierungen der Vorderseiten sucht man hier vergebens. "Natürlich ist das Projekt der Sonnenstadt gescheitert", sagt Klinau in diesem Umfeld. "Es ist eine Idee geblieben, eine Illusion, die Kulisse für ein fantastisches, erhabenes und romantisches Stück. Die Mächtigen haben uns etwas vorgegaukelt, aber auch wir selbst haben uns betrogen."

Klinau zückt seinen Flachmann aus der Jacke, nimmt einen kräftigen Schluck und sagt versöhnlich: "Auch wenn das mit dem großen Glück nicht wirklich funktioniert hat, das kleine Glück ist in Minsk nie besonders weit."

Nur auf dem Boden des Verderbens und des Leids können Menschen den Willen entwickeln, sich in eine Utopie zu träumen, sagt der Autor Artur Klinau über Minsk.