Die da drüben", sagt Herbert Schöberl, sitzt in seiner aufgeräumten Küche und zeigt mit dem rechten Arm abschätzig hinter sich zum Fenster in Richtung Norden, "die sehen mich nicht!" Mit "die" meint der pensionierte Kleinbauer das heutige Tschechien, wohin der Verkehr vor seiner Küche beständig rollt.

In seiner Kindheit war die Grenze am Ende des Dorfes, in dem der heute 75-Jährige aufgewachsen ist und immer gelebt hat, tabu: "Das prägt!" Er selbst ist hier noch zur Schule gegangen, als es noch eine gab, die ganz früher, vor dem Zweiten Weltkrieg, auch tschechische Kinder aus dem benachbarten Chvalovice-Hate besucht haben - zu Zeiten des Eisernen Vorhangs nicht mehr.

Die Kinder sind alle gegangen

Schöberls Kinder sind schon sieben Kilometer weiter südlich nach Haugsdorf zur Schule gefahren. Keines von den dreien ist geblieben. Eine Tochter lebt heute in Haugsdorf und kommt fast täglich - "zum Nachschauen". Seine Frau hatte vor Jahren einen Schlaganfall.

"Natürlich", sagt der alte Mann im großen Haus an der Grenzstraße 21, "waren 1989 erst einmal alle erleichtert." Auch er sei mitgelaufen, als der Mock den Zaun durchschnitten hat, damals hat er geglaubt, dass jetzt vieles besser werde.

Shopping-Stadt Excalibur-City

"Aber", sagt Schöberl und lehnt sich nach vorn und senkt die Stimme: "Hier ist nach 25 Jahren noch immer das Ende der Welt." Da helfe es auch nicht, dass ein paar hundert Meter weiter seit 20 Jahren die Excalibur City wachse und wachse.

Excalibur-City mit Merlin-Burg und Flugzeug, das irgendwann Niki Lauda dort abgestellt haben soll. 

Wenn von der Excalibur City die Rede ist, diesem schreiend bunten Shoppingstadt-Kraken, der sich neben Kleinhaugsdorf auf tschechischem Gebiet auf 200.000 Quadratmeter ausstreckt, dann spricht der Haugsdorfer Bürgermeister Johann Bauer von "Vor- und Nachteilen" und sagt: "Unserer Gemeinde bringt es gar nichts.

Die Leute fahren trotzdem hin." Das freut vor allem einen: Den fahl schillernden Österreicher Ronald Seunig, der dort sechzig Shops, Restaurants, Beauty-Salons, eine Tierklinik und vier Casinos an 365 Tagen im Jahr geöffnet hat und rund 2000 Leute beschäftigt, - 500 allein in Excalibur - die ausschließlich aus Tschechien kommen.

derstandard.at/von usslar

"Begonnen hat er mit Spielautomaten", weiß der Exzöllner Robert Jansen und schreit gegen den Verkehrslärm an: "Und mit Mädchen." Beim Lokalaugenschein am Grenzübergang, wo der heute 71-Jährige von 1966 bis 2002 gearbeitet hat, erinnert sich der braungebrannte Rentner, dass "der Ronnie" ihn damals angeboten habe, miteinzusteigen ins Geschäft und lacht: "Vielleicht wäre ich heute reich und hätte auch eine Ranch in Australien.

Seit zehn Jahren fehlt das "Duty" im "Free Shop" und die Preise sind angestiegen. 
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"Die Tschechen haben damals die Grenze zurückverlegt. "So entstand das Niemandsland", Jansen zeigt in Richtung eines abgerockten Gebäudes, gleich hinter dem weißen Grenzstein mit der Aufschrift "VIII/45" auf tschechischer Seite, wo angeblich alles begann mit billigem Schnaps und Zollfrei-Zigaretten.

Die tschechischen Zollbeamten konnten immer deutsch

Mit Blick auf die Fahrbahnen, auf denen früher "sein" Kontrollposten gestanden war, der erst Anfang des Jahres abgerissen wurde, kommen eine Menge Erinnerungen hoch: an den Prager Frühling 1968, wie später die Leute auf tschechischer Seite gefilzt wurden, die Tagesausflügler nach 1989, die tschechischen Kollegen, die immer Deutsch konnten, die Österreicher nie Tschechisch, an die vielen, die mitten in der Nacht mit roten Schädeln aus den Casinos über die Grenze zurück nach Österreich gefahren sind, wütend, weil sie einen Haufen Geld verloren hatten. Und er erinnert sich an 1995, den Schengen-Beitritt, als er als Leiter der Zollkassa trotz finanzieller Einbußen lieber in den Innendienst ging und nicht mehr zur Gendarmerie wechseln wollte.

Die Hauptstraße von Kleinhaugsdorf wird schlanker gebaut. Das Haus vom Grenzposten verfällt zusehends.
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Heute graben dort, wo Jansen fast 40 Jahre lang die Straße zum Grenzposten überquert hat, Bauarbeiter, um die Fahrbahnen durch Kleinhaugsdorf wieder schmäler zu machen.

Kleinhaugsdorf sieht immer noch nach Niemandsland aus: Das ehemalige Zollgebäude verfällt seit Jahren und steht zum Verkauf. Auch das 1995 für die Grenzgendarmerie errichtete Gebäude ist seit kurzem verwaist, weil die aus Österreichern und Tschechen bestehende Grenzpolizei seit kurzem in Untermakersdorf stationiert ist.

Ein Bus fährt hier schon lange nicht mehr

Das Gasthaus, das früher die rund 50 Beamte bewirtet hat, und vom ehemaligen Haugsdorfer Bürgermeister betrieben wurde, hat schon lange geschlossen. "Zwölf Hauptwohnsitze gibt es", sagt der amtierende Bürgermeister Johann Bauer und zählt beim Rundgang durch den Ort die Namen von Leuten auf, die hinter den trostlos wirkenden Fassaden noch wohnen. Vor einer Tür steht ein Rollator, darüber an der Fassade hängt eine Haltestellentafel. Ein Bus fährt hier schon lange nicht mehr. "Ein Wunder", sagt Bauer, "dass der Ort noch nicht ausgestorben ist."

Warum hier noch Häuser verkauft werden, weiß Herr Schöberl genau: "Weil es billig ist", sagt der lebenslange Grenzbewohner und sitzt noch immer in seiner Küche, lange nachdem der Bürgermeister und der Exzöllner den Grenzort wieder verlassen haben. Seine neuen Nachbarn, "Polen, Türken, ein Perser", kennt Schöberl nicht.

Grenzbewohner ohne Pass

So ein Leben an der Grenze ist wenig aufregend. Einmal sei ein Großneffe aus Deutschland für drei Monate von den Tschechen eingesperrt worden, weil er sich zu weit in Richtung Grenzposten vorgewagt hatte. Heute schießen sie in der Excalibur City höchstens Knallkörper, "dafür von Advent bis Silvester".

Eine Familie Vietnamesen bietet Gartenfiguren und Waren aller Art zwischen den ehemaligen Grenzposten an. 
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Die Vietnamesen, die nur hundert Meter weiter Gartenzwerge, Tierstatuen und Tand verkaufen, würden für den Seunig arbeiten und "wahrscheinlich keinen Pass besitzen, damit sie nicht abhauen können". Sicher weiß Schöberl das nicht.

Kleinhaugsdorf und das bessere Europa

Nachdenklich schaut er durch seine angegrauten Spitzengardinen aus Polyester. Schräg gegenüber seinem Haus hängt ein Plakat, auf dem die ÖVP für ein besseres Europa wirbt. "Die wollen alle nur Geld kassieren!" , sagt er. In Kleinhaugsdorf hat sich schon lange kein Politiker blicken lassen. 

Herr Schöberl wäre heute gegen die Osterweiterung, auch der Euro hätte ihm nichts gebracht. Wählen geht er trotzdem: "Wenn ich was mitreden könnte, würden wir hier schon lange eine Umfahrung haben!" Früher lag die Straße höher, jetzt hat er den Verkehr direkt vor der Nase.

"Und hinter dem Haus riecht es nach Mist", sagt er, schüttelt den Kopf. Der neue Nachbar hat Pferde. Als Schöberl die Tür hinter dem Besuch schließt, hört man, wie er den Schlüssel im Schloss zweimal umdreht. 

(Text: Mia Eidlhuber, Video: Maria von Usslar, DER STANDARD, 24.5.2014)